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Digitale Stadt: Auf der Berliner Transmediale 2017 geht es um Schnittstellen von Technik, Information und neuer Ästhetik.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Tim Renner über gesellschaftlichen Wandel: Was wir vom prekären Leben der Künstler lernen können

Künstler erproben neue Arbeitsmodelle und Integrationsmöglichkeiten für Geflüchtete. Der Kreativsektor kann dabei Vorbild für andere Politikbereiche sein. Ein Gastbeitrag.

Als ich mit der Firma Universal Entertainment 2002 in meine Heimatstadt Berlin zurückkam, lag sie am Boden. Die Wiedervereinigung hatte zum Zusammenbruch der hoch subventionierten Industrie geführt, sowohl in Ost- als auch West-Berlin. Kreative bespielten die Brachen und Ruinen, die von Fabriken und Montagehallen geblieben waren. Der neue Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit setzte auf sie und die Wissenschaft. Sehr viel mehr andere Chancen gab es ja auch nicht mehr.

Fünfzehn Jahre später blüht und wächst Berlin. Unsere Wachstumsraten übertrumpfen seit mehr als einer Dekade die jedes anderen Bundeslandes. Vor allem Künstler und Kreative haben der Stadt die Würde und die Zukunft zurückgegeben. Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist der größte, produzierende Arbeitgeber geworden. Über 400 000 Berliner finden in ihren Teilbranchen Beschäftigung und ein Einkommen. Dieses Einkommen ist aber oft prekär, und die Bedingungen sind mittlerweile schwierig. Es ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch der Vernunft, als Politiker genau hinzuschauen, was sich auf dem Kreativsektor tut.

Künstlerinnen und Künstler sind, auch ob ihrer eigenen Lebenssituation, Seismografen für gesellschaftliche Veränderung. Sie werden nicht durch große Strukturen oder Systeme vor technologischem oder sozialem Wandel geschützt. Sie bekommen ihn unmittelbar und ungebremst ab. Nur zwei Beispiele von vielen: In der wachsenden Stadt sind sie die ersten, die ihren Raum verlieren, denn die Orte, an denen sie proben und arbeiten, gelten als Gewerberaum und unterliegen keinerlei Mieterschutz. In der Digitalisierung sind sie die ersten Opfer einer gigantischen Umverteilung, denn ihre Rechte lassen sich nur schwer schützen und vergüten, während die Plattformen, die ihre Werke verbreiten, wachsen und gedeihen.

Wo fängt Kunst an, hört Unterhaltung auf?

Kultur und Kreativität sind wegen ihrer Inhalte, aber auch durch die Situation der Akteure ein Versuchslabor der Gesellschaft. Wer hier im politischen Sinne agiert, nimmt nicht nur frühzeitig Handlungsfelder wahr, sondern kann auch Antworten formulieren. Das gilt nicht erst seit heute – und nicht nur in Berlin: Helmut Schmidts Sozialminister Herbert Ehrenberg hat zum Beispiel bereits Anfang der achtziger Jahre die Künstlersozialkasse – kurz KSK – entwickelt. Sie wurde der Tatsache gerecht, dass freischaffende Publizisten und Künstler sehr unregelmäßige Einkünfte haben und oftmals keinerlei soziale Absicherung. Mit der KSK entstand eine Kranken-, Alters- und Pflegeversicherung für Künstler und Publizisten. Wie ein Arbeitgeber muss jeder einzahlen, der eine Leistung von Künstlern und Publizisten erwirbt. Ehrenberg entwarf somit bereits vor 35 Jahren eine moderne Form der Bürgerversicherung für Solo-Selbstständige.

Heutzutage ist die KSK völlig überlastet. Einerseits nimmt die Zahl der Künstler und Publizisten in einer Gesellschaft, in der so viele Menschen nach Selbstverwirklichung oder zumindest Selbstdarstellung streben, ständig zu. Andererseits lässt sich immer schwieriger abgrenzen, wo die Kunst aufhört und Unterhaltung anfängt.

In Berlin gehen wir bereits von über 200.000 Solo-Selbstständigen aus, Tendenz steigend. Die meisten von ihnen arbeiten in der Kreativwirtschaft. Wir sehen sie tagein, tagaus hinter ihren Laptops in den einschlägigen Cafés sitzen. Die meisten gehen ihrer Beschäftigung ohne jegliche Versicherung nach und träumen von einem Instrument wie der KSK. Viele sind freiwillig in die Selbstständigkeit gegangen, andere im Rahmen von Umstrukturierungen hineingedrängt worden. Alle erwarten Lösungen.

Die, die von der Digitalisierung profitieren, zur Kasse bitten

Der Wandel von sozialversicherungspflichtiger in freie oder in gar keine Beschäftigung nimmt gerade erst Fahrt auf. Was passiert mit den Lkw-, Bus- und Taxifahrern in Zeiten des autonomen Fahrens? Was wird aus Industriearbeitern, wenn 3D-Drucker in jedem Haushalt eine Selbstverständlichkeit sind? Wo bleiben Büroarbeiter, wenn Computerprogramme und Maschinen zunehmend selbstlernend werden?

Eine Studie der Universität Oxford (Oxford Economic Papers) geht davon aus, dass in den nächsten 15 Jahren bis zu 57 Prozent aller Jobs wegfallen werden. Barack Obama hatte den US-Kongress bereits im März 2016 mit einer Untersuchung konfrontiert, die von 50 Prozent Wegfall von Festanstellungen bis zum Jahre 2030 ausgeht. Wie wollen wir das bewältigen, ohne diejenigen, die von der Digitalisierung profitieren mit zur Kasse zu bitten und eine andere Form der Grundsicherung einzuführen?

Tim Renner, ehemaliger Kulturstaatssekretär von Berlin.
Tim Renner, ehemaliger Kulturstaatssekretär von Berlin.

© Thilo Rückeis TSP

In der Kultur haben wir Erfahrungen mit einer kleinen Maschinensteuer, der Leermedienabgabe gemacht. Mit ihr wird jedes Kopiergerät und jedes Speichermedium belegt, um ein wenig dessen aufzufangen, was dem Kreativen durch die Nutzung seines Copyrights entgeht. Das ist noch viel zu wenig und wird von den Verwertungsgesellschaften nicht immer fair verteilt, aber es geht in die richtige Richtung und belastet denjenigen, der Gewinne zulasten Dritter einfährt.

Genauso sind die vielen, kleinen Stipendien, die mittlerweile die Berliner Kulturverwaltung Künstlerinnen und Künstlern anbietet, eine neue, lokal geschaffene Form der Grundsicherung. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller hatte sie zu einem der Schwerpunkte seines Haushalts 2016/17 gemacht. Ich habe mich lange dagegen gewehrt, sogenannte Zeitstipendien ohne Nutzungsauflagen zu ermöglichen, sehe in ihnen aber mittlerweile auch einen Test für eine Art Grundeinkommen.

Im Idealfall entsteht eine neue Kultur

Ein anderes Beispiel ist ein Modell, das wir hier in Berlin mit Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen und seinen Mitarbeitern entwickelt haben, um Künstlerinnen und Künstlern zu helfen, deren Ateliers und Proberäume in privaten Liegenschaften bedroht sind. Stehen diese zum Verkauf, können sie nun auf ein Bürgschaftsprogramm, das mit bis zu 17,7 Millionen gesichert ist, zurückgreifen. Das ermöglicht ihnen einen Kredit bei einer staatlichen Bank aufzunehmen, um den Raum selbst zu erwerben. Im schlimmsten Fall können sie den Kredit irgendwann nicht bedienen, und das Land Berlin hat dann einen weiteren Arbeitsraum in seinem Atelierprogramm. Im besten Fall zahlen sie es in langer Nutzung ab und haben durch die Immobilie eine echte Altersabsicherung erworben.

Das Programm ist gerade erst angelaufen. Bewährt es sich im Bereich der Kunst, lässt es sich auch auf Wohneigentum ausweiten und könnte die Grundlage einer neuen Form der Eigenheimzulage sein. Mieter erhielten dann ein Vorkaufsrecht und der Staat wäre ihr Bürge. Im positiven Fall hätten wir dann selbstgenutzten Wohnraum dem Markt entzogen, im negativen eine weitere Sozialwohnung im Berliner Portfolio.

Nicht nur in der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Wohnungspolitik eignet sich Kultur als Beispiel für Lösungen von aktuellen Herausforderungen. Bei der Integration ist sie sogar der Schlüssel. Viele unserer Kulturinstitutionen haben im Rahmen der 2014 gegründeten „Mondiale“ Flüchtlingsunterkünfte adoptiert und künstlerische Projekte der kulturellen Begegnung realisiert. Über Kultur schaffen sie den Zugang zu unserer freiheitlichen Gesellschaft. Um damit erfolgreich zu sein, müssen sie aber auch ermöglichen, dass die potenziellen neuen Deutschen sich und ihre Kultur einbringen. In der Arbeit mit den Geflüchteten entsteht im Idealfall eine neue Kultur.

Amerika fällt als Blaupause weg

In der Konsequenz brauchen wir einen neuen Begriff für deutsche Kultur. Bis in die achtziger Jahre ging man bei kultureller Integration hierzulande von Unterwerfung aus. Das war der sogenannte Roberto-Blanco-Effekt: Singt der Kubaner deutsche Volkslieder, gilt er als integriert. Dank des französischen Kulturministers Jack Lang sprachen wir später von einer dualen Kultur oder eben von Multi-Kulti. Die Kultur der Ankommenden wird vom Staat als gleichwertig erkannt und gefördert. Das erzeugt jedoch leider nicht zwangsläufig den kulturellen Austausch, sondern schuf in Frankreich Parallelkulturen in den Banlieues, den Vorstädten von Paris.

Philosophen und Soziologen wie Achille Mbembe aus Kamerun („Kritik der schwarzen Vernunft“) fordern einen „additiven Kulturbegriff“. Die Kultur des Einwanderungslandes Deutschlands wäre also eine, die sich mit der Kultur der Ankommenden mischt. Das ist kein ungewöhnlicher Prozess. Nichts anderes war die Vermischung europäischer und afrikanischer Kultur zum Jazz, Blues, Swing und schließlich Rock'n'Roll. Dieser Mix hat das Selbstverständnis und den Zusammenhalt des melting pots USA repräsentiert und musikalisch weltweit das 20. Jahrhundert dominiert.

Amerika fällt als Blaupause weg, zumindest einstweilen. Umso mehr sind wir gefordert, bei uns die Integration zu schaffen und gleichzeitig den technologischen und sozialen Wandel zu gestalten. Wir haben jetzt wieder Politiker, die die Signale aus dem kreativen Sektor hören und verstehen. Mit dem Kulturfreund und Begründer des „Kreativpakts“ Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsident und dem ehemaligen Buchhändler und Verlagsmitarbeiter Martin Schulz als Kanzlerkandidat stehen die Zeichen bei den Sozialdemokraten wieder auf Nähe zu Kunst und Kreativität. Die sozialdemokratische Partei ist offenbar immer dann am stärksten, kann Mehrheiten erobern, wenn sie sich der Kultur öffnet. Das war schon unter Willy Brandt so.

Der Musikmanager, Journalist und Dozent Tim Renner war von 2014 bis 2016 Kulturstaatssekretär in Berlin. Jetzt bewirbt er sich in Charlottenburg-Wilmersdorf um die Bundestagskandidatur für die SPD.

Von Tim Renner

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