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Auf der Goldwaage. Uwe Schmieder (links) und Paulina Alpen in einer Szene aus der dreistündigen "Borderline Prozession".

© Marcel Schaar

Theatertreffen: „Borderline Prozession“: Nichts so richtig und alles zugleich

Gegenwarts-Schock: Die „Borderline Prozession“ des Schauspiels Dortmund reflektiert das alltägliche Dauerfeuer der digitalen Welt aus tausend Kanälen.

Früher war diese Lagerhalle im Industriegebiet von Dortmund-Hörde dem Fußball vorbehalten, wie so vieles in der Stadt. Hier stapelten sich BVB-Fanartikel, unter anderem die Trikots der Nummer 11, Marco Reus. Die schwarzgelb gestrichenen Treppengeländer in diesem Zweckbau, der jetzt „Megastore“ heißt, zeugen noch davon. Und draußen vor der Tür hängen Plakate in den Vereinsfarben, auf denen stolz verkündet wird: „Dortmund holt das Triple“. Was sich jetzt allerdings auf die Kunst bezieht, nicht die Kicker. Das Schauspielhaus unter Intendant Kay Voges, das hier in Hörde seine Zelte aufgeschlagen hat, ist als klarer Sieger aus einer Umfrage in NRW hervorgegangen: beste Bühne, bestes Theaterstück und beste Schauspieler 2016. Dafür gibt’s zwar keinen Pokal, aber immerhin überregionale Beachtung. Mal wieder. Voges, der 2010 als Theaterleiter im Revier angetreten ist, hat ein vormals eher tristes Provinzhaus in die Erstklassigkeit zurückgeführt. Und das mit etwas komplexeren Identifikationsangeboten, als sie das Stadion bereithält.

In rund zwei Stunden beginnt die 20. Vorstellung seiner Inszenierung „Die Borderline Prozession“, die zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen ist. Voges sitzt in seinem Büro im ersten Stock des Megastores, der dem Schauspielhaus während einer Renovierungsphase als Ausweichspielstätte dient, und spricht über den „Gegenwarts-Schock“. Ein Begriff, den der Medientheoretiker Douglas Rushkoff geprägt hat und der ziemlich gut beschreibt, worum es in der dreistündigen Aufführung am Abend gehen wird: Um das Dauerfeuer der digitalen Welt aus Twittermeldungen, Messages, Mails und News aus tausend Kanälen, dem wir ausgesetzt sind, ohne taugliche Sortiersysteme zu haben. „Wir lesen vom Krieg in Syrien, checken nebenbei Fußballergebnisse und hören, dass die Mutter krank ist – wie geht das alles zusammen?“, fragt Voges. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichen“ nennt er dieses Überforderungsphänomen und zitiert den Liedermacher Funny van Dannen: „Während der eine stirbt, werden andere einen Orgasmus haben. Das hört sich schlimm an, ist es aber nicht ganz. Denn zum Glück gibt es die räumliche Distanz.“

Menschen, die in ihren alltäglichen Routinen gefangen sind

„Die Borderline Prozession“ ist eben keine Polonaise für Kulturpessimisten, die einem das Smartphone verleiden will. Sondern ein Erfahrungstrip ohne Beipackzettel, der sich selbst ganz unkokett als „Versuch“ labelt. „Es gibt nichts zu verstehen, aber viel zu erleben. Wie auch sonst im Dasein“, verkünden die Videoleinwände vor Beginn der Vorstellung. In der Mitte der Halle ist eine Reihe von offenen Wohncontainern aufgebaut, um die das 23-köpfige Ensemble eingangs zu prozessieren beginnt, den Song „In a Manner of Speaking“ von Nouvelle Vague auf den Lippen. Ein Kamera-Dolly fährt mit, den Voges als Live-Regisseur begleitet, immer im Kreis, oder genauer: im Loop. Die Inszenierung produziert eine Endlosschleife aus Bildern und Texten, die immer neu und auch nach Tagesaktualität zusammengesampelt werden. An diesem Abend hallen Donald Trumps Sätze über die süßen syrischen Babys durch den Megastore („Look, what a beautiful baby!“), mit denen sich Bombardements prima rechtfertigen lassen.

Man sieht: Menschen, die in ihren alltäglichen Routinen gefangen sind. Die sich allerlei Grausamkeiten antun. Und die, im dritten Teil dieses Triptychons, zu einer Armee der uniformen Lolitas mutieren. Man hört: Texte von Gilles Deleuze und Charles Bukowski. Von Bertolt Brecht und Jonathan Meese. Die Grenze zwischen Bildwucht und Overkill ist dabei sehr durchlässig, vieles ist plakativ, vieles packend. Unbestreitbar entwickelt der Abend einen starken Sog in seinem Bemühen, sich aus dem Chaos der Informationspixel herauszukämpfen und den Blick auf das große Ganze zurückzugewinnen. Wie in der biblischen Geschichte von Jericho, die hier wiederholt zitiert wird: Reißt die Mauern ein, sprengt die Trennung zwischen Innen und Außen!

Auch im Internet kann Theater stattfinden

Kay Voges zählt zu den Theatermachern, für die „das psychologische Jahrhundert vorbei ist“. Sich einfühlsam an Ibsen oder Tschechow zu kuscheln, ist für ihn keine Option. Seine Forschung in Dortmund gilt der Frage, wie wir in der Digitalisierung von Zauberlehrlingen zu Lenkern werden können. „Wir müssen mündig mit den neuen Möglichkeiten umgehen und damit auch Wirklichkeit gestalten“, ist der Theaterleiter überzeugt.

Dafür hat er sein Ruhrpott-Theater zu einer fortschrittlichen Netzwerk-Schmiede umgerüstet und Allianzen mit Internet-Aktivisten und Software-Entwicklern gesucht. Voges experimentiert mit Bildern, die aus Körperimpulsen der Schauspieler gewonnen werden , forscht mit Live-Fotografie nach der Umsetzbarkeit von Goethes Diktum „Verweile doch!“. Und ist auch offen fürs Streaming seiner Stücke. „Das Internet ist auch ein Raum, in dem Theater stattfinden kann.“

Nicht, dass das Netz die Bühne dauerhaft ersetzen sollte. Aber der Intendant und seine Mitstreiter haben gemerkt, dass die alte Bedenkenträger-Frage – „Ist das noch Theater?“ – sie nirgendwo hinführt. Also probieren sie lieber aus, welche Möglichkeiten sich heute einem 2000 Jahre alten Medium bieten.

Malocher-Mentalität in Dortmund

Voges, 44, räumt ein, dass ihm die Dortmunder anfangs mit Skepsis begegneten: „Das Publikum hatte schon Angst vor einem Theatermacher der MTV-Generation.“ Gewonnen hat er sie mit seinem Credo „Wir dürfen nicht arrogant sein“. Und mit ehrlicher Arbeit. Ruhrgebiet eben. In seiner Antritts-Inszenierung, „Woyzeck“, ließ er vier Tonnen Schnee auf die Bühne kippen, durch den sich die Schauspieler barfuß quälten. „Ganz gleich, ob sie es mochten oder nicht, aber die Zuschauer haben gemerkt: die meinen es ernst“, erzählt Voges.

Die Malocher-Mentalität haben sie sich bis heute bewahrt. Müssen sie auch. Dortmund ist kein reiches Haus, der künstlerische Etat beträgt gerade mal 1,4 Millionen Euro, das erfordert stetes Talentscouting. Voges holt sich Bildende Künstler oder Filmemacher wie Jörg Buttgereit ans Haus, lässt die Punkband „Die Kassierer“ im Musical auftreten, engagiert Gruppen wie das PENG! Kollektiv oder das Zentrum für politische Schönheit. Noch bis 2020 läuft sein Vertrag in Dortmund, verlängern wird er ihn nicht. Zeit für neue Herausforderungen. Vielleicht auch am Berliner Ensemble. Bei Intendant Oliver Reese in Frankfurt hat Voges schließlich schon zwei Mal inszeniert. „Vielleicht“, sagt er, „drehe ich aber auch einen Hollywoodfilm.“ Die Gegenwart bietet schließlich unendliche Möglichkeiten.

Rathenau-Hallen, Wilhelminenhofstr. 83, Oberschöneweide, 7. 5. –11. 5.

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