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Deutsches Requiem. Thomas Hauser als jüngerer Sohn des Seehof-Gastwirts und Ensemble. Auch dabei: drei Klaviere, eine Pauke, ein Chor, der Brahms und anderes singt.

© Judith Buss

Theaterinszenierung "Mittelreich": Am Ende vom Lied

Viel Singsang, viel Fluchen und etwas karnevaleske Magie: Anna Sophie Mahlers Inszenierung „Mittelreich“ bei den Kammerspielen in München.

Einmal kommen zwei Figuren sich als Menschen wirklich nah. Dem schon längst (oder nie) erwachsenen Sohn ist die Mutter (wie auch der Vater) lebenslang fremd geblieben. Nun aber reicht er seiner auf einem einfachen Holzstuhl hockenden Mutter die Hand, eigentlich nur den Unterarm, ungelenk, dann plötzlich umfängt er die schwere Frau mitsamt dem Stuhl, stemmt sie beide hoch und macht eine Drehung, als wolle er mit ihr tanzen. Eine schwebende Sekunde, und schon setzt er sie ab, und die Mutter hockt wieder da – jetzt freilich vom Schlag getroffen, alt geworden, der Blick stier starrend, die rechte Hand eingekrümmt, zitternd. Im Augenblick ist eine Kindheit, ein Elternleben vergangen.

Solche die Zeit und die Existenz magisch verdichtenden Momente hat es bei den Gastspielen der nach Berlin eingeladenen Theatertreffen-Aufführungen nur wenige gegeben. Steven Scharf, der in der Münchner (Musik-)Theaterinszenierung nach Motiven von Josef Bierbichlers Roman „Mittelreich“ den Sohn vom „Seehof“-Wirt spielt, und Annette Paulmann, die Gastwirtsfrau und Mutter, sorgen für diese Ausnahme, fast schon am Ende des Abends. Am Ende vom Lied.

Mit Musik und Chören fängt es auch an. Anna-Sophie Mahler hat in ihrer Adaption des Ende 2011 erschienenen ersten Romans des Schauspielers und bayrischen Seegastwirtssohns Sepp Bierbichler alles vermeiden wollen, was nach irgendwie saftiger, breitpinseliger Milieumalerei ausgesehen hätte. Das war klug, denn die in teils kraftvoll realistischer, manchmal auch kleistisch kataraktgleicher Prosa erzählte Familiensaga aus einem Jahrhundert bayrisch-deutscher Geschichte lebt von einer Sprache, die noch dem Bodenständigsten etwas Abgründiges oder über allen Naturalismus Hinaustanzendes verleiht.

Das Stück entfaltet eine karnevaleske Magie

Mahler, der man ihre Lehrjahre als Assistentin von Christoph Marthaler und auch Christoph Schlingensief anmerkt, nähert sich Bierbichlers „Mittelreich“ in ihrer Münchner Kammerspiele-Inszenierung oft assoziativ. Sie lässt nur einzelne Motive aus dem Romantext anklingen: zu beiden Weltkriegen, zu Familienkonflikten, einer Beteiligung des Vaters am Judenmord, einem Missbrauch des nach 1945 geborenen Sohns im katholischen Internat oder auch dachabdeckende Stürme überm See und das Sauschlachten in der dem Gasthof zugehörigen Landwirtschaft. Sechs Schauspieler rezitieren das oder spielen es, sich aus heutiger mitteleleganter Großstadtkleidung (mehr Münchner Maximilianstraße als Bauernwirtschaft) schälend und andeutungsweise kostümierend. Vor allem aber auch singend.

Denn die Aufführung durchzieht immer wieder Brahms’ „Deutsches Requiem“ mit dem Motto „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“; dazu ertönt von den Rängen oder der Bühne das vielstimmige Junge Vokalensemble München, begleitet von drei Pianisten und einem Musiker an der Pauke. Auch werden in der Nachkriegsmusiktruhe mal Platten aufgelegt, immer klassisch – weil der Seewirt ja eigentlich gerne Opernsänger geworden wäre und es in einer Gewitternacht im Fasching schafft, derart gegen das auf dem See berstende Eis und die nahende Sturmflut mit Wagner-Klängen anzusingen, dass auch die wilde Natur wundersam verstummt. Wer das Buch nicht kennt, kann diese – hier bloß angedeutete – karnevaleske Magie freilich nur ahnen. Eine Nachahnung.

Ähnliches gilt für die tolle Geschichte des als Ostflüchtling einquartierten preußischen Flüchtlingsfräuleins von Zwittau. Deren Vergewaltigung durch russische Soldaten ist in ihrer drastischen Zartheit und beredten Lakonie im Buch ein Meisterstück, als aufgesagtes Bühnenzitat aber bleibt das so fahl wie, nomen est omen, Fräulein von Zwittaus hermaphroditisches Wesen als „Zipfelpritsche“.

Die Berliner Inszenierungen sind stärker

Es liegt nicht an Damian Rebgetz, der „das Fräulein“ mit Kopfstimme und im Transvestitenlook gibt. Auch hält die immer großartige Annette Paulmann, halten Stefan Merki als Vater, der junge Thomas Hauser als jüngerer Gastwirtssohn und der nur manchmal etwas lautstarke Haupterzähler Steven Scharf das Interesse wach. Ebenso wie Jochen Noch als Hausknecht und Flüchtling, wobei ja das beim Theatertreffen allgegenwärtige „F.“-Wort fast allein für die aktuelle, politisch korrekte Aufmerksamkeit sorgt.

Und doch bleibt’s eine Etüde. Ein Theater nur „nach“ einem Roman. Sekundär. Das ist ganz anders bei Daniela Löffners Inszenierung von „Väter und Söhne“ am Deutschen Theater, wo Turgenjews Roman schon vorab zu einem dialogischen Stück von Brian Friel geworden war. Überhaupt haben bei diesem Theatertreffen die aus Berlin stammenden Nominierungen, neben „Väter und Söhne“ noch Yael Ronens „The Situation“ vom Maxim Gorki Theater und Herbert Fritschs fulminantes „der die mann“ an der Volksbühne, die stärkere Wucht im Vergleich zu den mit Spannung erwarteten Importen aus Hamburg, Wien oder jetzt München.

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