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Maskiert. Der Tanzabend „Masse“ in der Halle des Berghain fasst drei Choreografien zusammen. Diese hier ist von Tim Plegge und heißt „They“.

© Kay Nietfeld/dpa

Tanzprojekt "Masse": Das Berghain als große Bühne

Spreng’ das Kollektiv: Das Berliner Staatsballett tanzt im Berghain vor einer apokalyptischen Kulisse des Malers Norbert Bisky. Nach "Shut Up and Dance. Updated" aus 2007 ist das Projekt "Masse" die zweite Kooperation zwischen den beiden Kulturstätten.

Von Sandra Luzina

Diesmal muss kein tätowierter Türsteher überwunden werden, der wie ein Zerberus vor dem Einlass wacht. Wer es in die Halle des Berghain geschafft hat, fühlt sich dennoch auserwählt. Und ist erst mal überwältigt von dem 17 Meter hohen Raum mit den bröckeligen Mauern und rostigen Rohren. Mit dem Tanzabend „Masse“ wurde Sonnabend ein neuer Saal eröffnet. An zehn Abenden tanzt hier das Staatsballett Berlin, danach wird die Halle wieder geschlossen.

Dass sich Hochkultur und Clubkultur begegnen, dass Industrieruinen temporär bespielt werden, ist Berlins Markenzeichen. Doch man fragt sich: wie lange noch? Dass das Projekt „Masse“ einen so gewaltigen Hype ausgelöst hat, liegt nicht nur daran, dass der Malerstar Norbert Bisky das Bühnenbild entworfen hat. Das ambitionierte Projekt ist auch ein Symbol für das, was möglich ist in Berlin. Und es ist zugleich der Abgesang an einen Traum. Denn eigentlich hatten Michael Teufele und Norbert Thormann, die beiden Berghain-Macher, ganz andere Pläne. In dem ehemaligen Kesselhaus sollte ein neuer Veranstaltungsort entstehen. Aus dem „Kubus“ – Konzertsaal, Theaterbühne und Galerie in einem – wird nun nichts. Wegen der hohen Stahlpreise war der Umbau der Halle nicht mehr zu finanzieren. Zudem sitzt dem Berghain die Gema im Nacken: Nach der Tarifreform könnten die Gebühren um bis zu 1400 Prozent steigen. Die 1,25 Millionen, die Kulturstaatssekretär André Schmitz ihnen aus einem Sondertopf für „innovative Orte“ anbot, lehnten sie ab.

Vom Engagement der Berghain-Macher profitiert nun vor allem das Staatsballett Berlin. Der Tanzabend konnte nur realisiert werden, weil Geld aus dem laufenden Clubbetrieb in das Projekt fließt. Außerdem bietet der Abend Malakhovs Truppe die Chance, ihr verzopftes Image aufzupolieren. „Masse“ ist nach „Shut Up and Dance. Updated“ von 2007 bereits die zweite Kooperation zwischen dem Berghain und dem Staatsballett. Fünf bekannte DJs haben die Musik komponiert und beweisen, dass sie mehr können als nur düsteren Elektro oder harten Techno. Ein gewisses Ungleichgewicht herrscht bei den drei Choreografen: Nadja Saidakova und Xenia Wiest, die schon bei „Shut Up“ dabei waren, sind beide Tänzerinnen in Malakhovs Truppe, Tim Plegge dagegen hat sich schon einen Ruf als professioneller Choreograf erworben.

Der Maler Norbert Bisky beschwört ein apokalyptisches Szenario – das die Choreografen meistens links liegen lassen. Ein verkohlter, ausgeschlachteter BVG-Bus ragt am Bühnenrand empor. Unter dem Wrack kommt Ibrahim Önal hervorgekrochen – doch er wirkt weniger wie der Überlebende einer Katastrophe, sondern wie ein somnambuler Träumer. Plötzlich verdunkelt sich der Raum. Der düstere Menschenblock, der sich rückwärts auf die Rampe zubewegt, könnte auch halluziniert sein. Wenn die Tänzer in ihren wallenden Gewändern einen Kreis bilden, mutet es an wie ein Hexensabbat. Die Leiber wogen und kreisen, immer wieder bricht einer aus, springt empor und wird wieder hineingesogen in die verschlingende Masse. Später teilt sich die Menge in tanzende Atome, die nur flüchtige Beziehungen eingehen.

Am Ende treten alle in Alltagsklamotten nach vorn und beginnen in vielen Sprachen durcheinander zusprechen. Sie erscheinen nun wieder als Individuen mit unterschiedlichen Geschmäckern und Einstellungen. Als eine vertanzte Evolution lässt sich das Stück aber nicht begreifen. Xenia Wiest reiht Bewegungen und Bilder aneinander, aber sie ist zu sehr bemüht, ihren Tänzern Futter zu geben.

Von Nadja Saidakova erwartete man ein Turbo-Ballett der athletischen Körper. Umso überraschender dann „Boson“, das von den Bosonen, den sogenannten Gottesteilchen, inspiriert wurde. Saidakovas Choreografie ist angewandte Physik – mit durchaus virtuosen Passagen. Sie entwirft auch eigenwillige Bilder. Die Tänzer kriechen über den Boden, ganz der Schwerkraft hingegeben; sie muten wie Insekten an, wenn sie ihre Beine in die Luft strecken. Iana Salenko ist halb Gottesanbeterin, halb galaktische Prinzessin. Sie brilliert in einem zerdehnten Pas de deux mit Vladislav Marinov. Mit Lämpchen an den Händen erinnern die Tänzer am Ende an Glühwürmchen – eine reichlich effektverliebte Szene.

Am überzeugendsten ist „They“ von Tim Plegge. Konsequent verhandelt er die Spannung zwischen Kollektiv und Individuum. Anfangs verbergen die neun Tänzer ihr Gesicht mit weißen Masken, wie sie der Torwart beim Hockey trägt. Unheimlich wirkt diese zuckende Menge, die sich bald zu einer Art Fight Club zusammenrottet. Alexander Shpak hüpft wie ein übermütiges Rumpelstilzchen herum – ein Unruhestifter, der versucht, die Gruppe aufzusprengen. Bei Plegge geht es um Anstoß, Energie und Kraftübertragung – und darum, dass sich die eigenen Impulse behaupten müssen gegen die Formung und Verformung durch die Gruppe.

Masse oder Klasse – bei den tollen Tänzern stellt sich die Frage nicht. Auch sie haben großes Engagement bewiesen und die Stücke neben den regulären Proben einstudiert. Auch wenn der Abend choreografisch durchwachsen ist, so ist er doch ein Anstoß, eigene Grenzen zu überschreiten.

Wieder am 7.–10., 14., 16., 18., 22. und 24./25.5., jeweils 20 Uhr.

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