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Vor der deutschen Kommandantur. Nach Polens Kapitulation im September 1939 lassen sich Warschauer Männer registrieren.

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Szczepan Twardochs Roman "Morphin": Die Träume des Herrn Konstanty

Warschauer Nachtseiten: In seinem kühn expressiven Roman "Morphin" nähert sich Szczepan Twardoch provokant der polnischen Geschichte an - munter und politisch inkorrekt.

Warschau im Oktober 1939: Einen Monat nach dem deutschen Überfall auf Polen ist die ehedem vor Lebenslust pulsierende Hauptstadt wie gelähmt. Sie befindet sich in einer amorphen Zwischenphase, denn noch haben die deutschen Besatzer nicht ihr wahres Gesicht gezeigt. Elegante Bars und Tanzlokale werden behördlich verpflichtet, ihren Gästen Eintopf aus der Gulaschkanone auszugeben. In den Krankenhäusern erhalten die verwundeten Soldaten Morphin zur Schmerzlinderung. Dieses Opiat trägt seinen Namen nach Morpheus, dem griechischen Gott der Träume.

Um für Augenblicke zu erlöschen, statt sich der Realität zu stellen, konsumiert auch Reserveoffizier Konstanty Willemann regelmäßig Morphin. Die „glücksspendenden regenbogenfarbenen“ Fläschchen presst er einem befreundeten Arzt im Krankenhaus ab, dessen Frau Iga er einst verführt hatte. Das war tief im Frieden, im Jahr 1927, sie war seine erste Geliebte gewesen und er ihr erster Mann: „Ich war damals ein dummer achtzehnjähriger Junge, sehr empfindlich, was meinen Akzent anging, der oft noch schlesisch oder deutsch klang“, schreibt Szczepan Twardoch in seinem Roman, den er nach der Glücksdroge benannt hat.

Iga ist verschwunden, und Konstanty sucht sie halbherzig. Ebenso halbherzig, wie er als Offizier kurz nach der Kapitulation die Ulanen-Truppe verließ. Auch seine Pflichten als Ehemann und Vater vernachlässigt er. Lieber lässt er sich durch die Straßen und Lokale treiben. In Wahrheit wird der 30-jährige Konstanty von zwei anderen Frauen beherrscht: seiner als Teufelin oder „weiße Adlerin“ dargestellten Mutter, die ihn immer noch finanziell unterstützt und dadurch an sich bindet („bist ein Stück Fleisch, zerhackt von ihren Schecks“), und seiner jüdischen Geliebten Salomé.

Munter und politisch inkorrekt

Die rothaarige Edelprostituierte zeichnet der Autor als orgiastisches Vollweib. Ihre Attribute scheuen nicht den Kitsch: „Später ließ sie die Zeichnung rahmen und hängte sie über die Tür, geraffter Rock, die dunkle Stelle darunter, Urheimat der Männer, die Hände auf den weißen Schenkeln, nah am Schritt, als würde sie sich selbst die trägen Beine auseinanderdrücken.“

Genauso munter und politisch inkorrekt verbreitet sich der Erzähler über angebliche Nationalcharaktere: „Der Preuße hasst die Polen, weil er weiß, dass er selbst nur ein oberflächlich eingedeutschter Pole ist. Der Österreicher hasst die Tschechen, weil er selbst nichts anderes ist als ein dünn mit deutschem Zuckerguss glasierter Tscheche.“

Szczepan Twardoch wurde 1979 in Oberschlesien geboren. Er hat vor „Morphin“ bereits sechs oder sieben Bücher geschrieben, die er nur zum Teil gelten lässt, darunter die Familiensaga „Starnberg“. Selbstbewusst gibt er als Nationalität „Schlesier“ an, was in Polen nach wie vor eine Provokation bedeutet. Auch mit seinem großen Weltkriegsroman, der ihn zu einem Star der polnischen Literaturszene machte, hat er bewusst das offizielle nationale Geschichtsbewusstsein infrage gestellt.

Twardoch las sich in die Literatur der Zwischenkriegszeit wie den 1922 erschienenen und mehrfach verbotenen Skandalroman „Kokain“ des Italieners Pitigrilli ein. Er hörte deutsche Schlager und studierte die Topografie des untergegangenen Warschau so intensiv, bis er ein eigenes Bild der Stadt entwerfen konnte. Erst durch diese exakte Verortung erhält der rhapsodische Bewusstseinsstrom des Konstanty Willemann seine mitreißende Kraft, wächst dem Roman seine singuläre Kühnheit zu.

Provokante Annäherung an die eigene Geschichte.

Willemann lässt sich von Widerstandskämpfern dazu überreden, die Wehrmachtsuniform seines schwer versehrten Vaters anzuziehen, nachdem der Totgeglaubte plötzlich im Deutschen Club wieder auftaucht: „Ich bin Konstanty Willemann und bin der Sohn einer Teufelin und eines Leichnams.“ Im Ersten Weltkrieg hatte der Vater bezeichnenderweise einen Großteil seines Gesichts und durch eine Phosphorbombe sein Geschlecht verloren – makabrer geht es kaum. Durch die väterliche Uniform nimmt Konstanty als Agent des polnischen Untergrunds nun offiziell die Perspektive des Deutschen Baldur von Strachwitz ein.

Das ist nicht ohne grimmige Komik, zumal er sich schon zuvor über das bizarre polnische Heldengebaren amüsiert hatte. So unterstellt er seiner Frau Helena, ihn in den Heldentod treiben zu wollen, um endlich Witwe zu werden. Seine Mutter wiederum, die sich glühend zum Polentum bekannt hatte, tritt ihm plötzlich in der Uniform der NS-Frauenschaft entgegen, als Leiterin der Germanisierungsbehörde. Der Übersetzer dichtet ihr eine malerische, aber im Deutschen inexistente „granatblaue“ Uniform an, vom polnischen „granatowy“ für dunkelblau.

Psychotherapie für die Polen

Ganz offensichtlich ist es ein Privileg der jüngeren polnischen Schriftstellergeneration, sich der eigenen Geschichte derart provokant zu nähern. „In einem bestimmten Punkt hat Polen keine Geschichte, sondern nur Mythologie“, sagt Szczepan Twardoch: „Deutschland hat die tiefgreifende Erfahrung machen müssen, sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine völlig neue Identität aufzubauen. Diese Erfahrung haben Polen überhaupt nicht. Die Mehrzahl der Polen braucht meines Erachtens eine Art Psychotherapie, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen – was sie immer noch nicht können. Aber das ist nicht meine Aufgabe!“

In seinen stärksten Passagen erreicht „Morphin“ den schneidenden Fatalismus von Curzio Malapartes Antikriegsepos „Kaputt“ (1944), besonders in den gespenstischen Kapiteln über Polen unter der NS-Herrschaft. Kann es mit einem wie Willemann gut ausgehen, der sich als Verschwender, Hurenbock und Morphinist bezeichnet und zugleich die ersten Deportationen von Juden beobachtet? Wohl kaum. Die rätselhafte, offenbar weibliche Erzählerinstanz umkreist den zerrissenen Helden auf knapp 600 Seiten wie ein Insekt, lässt ihn abwechselnd aus der Ich- wie aus der Er-Perspektive versichern, er sei Konstanty Willemann.

Das kann ermüdend wirken, so wie manch andere arabeske Ausschweifung. Der eruptiven Kraft dieses Romans tut es keinen Abbruch. Er bedeutet eine Herausforderung, nicht zuletzt für den Übersetzer. Olaf Kühl hat sich ihr bravourös gestellt. Und: „Morphin“ schreit aufgrund seiner expressiven Bildkraft geradezu nach einer Verfilmung. Diese sei in Vorbereitung, verrät der Autor, schränkt jedoch mit landestypischem Humor ein: „In der polnischen Filmindustrie kann man sich erst dann über einen Film sicher sein, wenn er in die Kinos kommt.“

Szczepan Twardoch: Morphin. Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt, Berlin 2014. 592 Seiten, 22,95 €.

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