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Amerikanische Siedler-Story „The Homesman“.

© Filmfestival Cannes

Starke Wettbewerbsbeiträge in Cannes: Dem Glanz hingegeben

Das Filmfestival in Cannes präsentiert starke Beiträge im diesjährigen Wettbewerb: „Winter Sleep“, „The Homesman“ und „Saint Laurent“.

Lange Filme gelten als Schrecken der Branche. Verleiher und Kinobetreiber zittern um ihre Umsätze, wenn sich ein Titel auf zwei Anfangszeiten breitmacht, ohne dass man dafür den doppelten Preis verlangen könnte. Zuschauer dagegen wittern die fürsorgliche Geiselnahme: Weil manche Regisseure ihre eher kleine Geschichte offenbar partout nicht adäquat knapp erzählen wollen, stimmt bald das überaus sensible Zeit-Leistungs-Verhältnis nicht mehr.

Und dann gibt es jene Filme, die erst aus der Dauer ihre spezifische Kraft gewinnen: Länge, Langsamkeit, Verharren, Wiederholung, das Prinzip des Insistierens versetzen den Zuschauer in einen fast meditativen Zustand. Mike Leighs mäandernde Wanderung durch das Leben des Malers William Turner (149 Minuten) verführte soeben in Cannes zu solch einer hinreißenden Reise. Warum durch ein fremdes Leben hetzen – das eigene ist doch hoffentlich auch nicht gar so kurz?

Den Längenrekord allerdings im aktuellen Cannes-Wettbewerb hält, mit 196 Minuten, Nuri Bilge Ceylans „Winter Sleep“ – und viele Beobachter zeigten sich über das anatolische Familien- und Gesellschaftspanorama von nahezu Tschechowschen Ausmaßen ebenso enthusiasmiert wie über Leighs Maler-Hommage. Der reiche Aydin (Haluk Bilginer), ehemals Schauspieler, betreibt in der kappadokischen Höhlenlandschaft ein Hotel. Seine junge Frau Nihal (Melisa Sözen) vertreibt sich den – langen – Winter mit örtlichen Charity-Projekten, außerdem leistet ihr die frisch geschiedene Schwester Necla (Demet Akbag) eher gallig gelaunt Gesellschaft. Sie alle sind aus Istanbul an dieses Ende der Welt geraten, und als sich wachsende Spannungen mit den Dörflern einstellen, verliert auch das Binnenverhältnis des Trios seine Balance.

Ein Patriarch wird demontiert

Ceylan entwickelt diese Seelenszenerie in höchst umfänglichen Dialogen als Demontage des Patriarchen Aydin, der alle Probleme mit einer Melange aus Rhetorik, Eitelkeit und Zynismus totzureden gewohnt ist. Die Schwester macht ebenso Lebensrechnungen auf wie die Ehefrau; fundamental erschüttern aber lässt Aydin sich nicht. Umso überraschender kommt die finale und reichlich feierliche Läuterung, mit der der Altmacho seine Ehe rettet, zumindest über die nächste Zeit. „Nimm mich als Diener, als Sklaven“, beschwört er die hinterm geschlossenen Fenster stehende Nihal aus dem Off. Wer’s glaubt.

Das verblüffend ironiefreie Ende verkleinert den souverän entwickelten und visuell faszinierend gestalteten Film denn doch gewaltig, und vom Tschechowschen kollektiven Lebensekel bleibt bloß eine Heiterkeit vom Grabbeltisch. Mit einem Lächeln ganz anderer Art endet die amerikanische Siedler-Story „The Homesman“: Regisseur und Hauptdarsteller Tommy Lee Jones singt und tanzt nachts auf einer Missouri-Fähre, sein „Nachhausebringer“ (so ließe sich der Titel vielleicht übersetzen) George Briggs hat soeben auftragsgemäß drei junge demente Frauen bei einer Pastorin in Iowa abgegeben – nach einer wochenlangen und gefahrvollen Fahrt durch die Prärie. Briggs feiert die Rückkehr in sein unstetes Leben und trinkt eine Trauer weg, die den Stein von Mann fast überschwemmt.

Kernfigur allerdings dieses Prärie-Movies, das fern an Kelly Reichardts „Meek’s Cutoff“ (2010) erinnert, ist eine starke Frau: Die gottesfürchtige, unverheiratete Anfangdreißigerin Mary Bee Cuddy (Hilary Swank) übernimmt die Aufgabe, das im öden Nebraska an Krankheit und Armut verrückt gewordene Frauen-Trio in Sicherheit und gute Fürsorge zu bringen. Den wortkargen, allenfalls fluchenden Einzelgänger Briggs heuert sie dafür bloß an. Alles, was im Setting eines derartigen Spätestwesterns nun passieren kann, passiert auch, allerdings anders als üblich. Und in seiner späten Mitte stemmt das Drehbuch eine oberarmdicke Überraschung, nach der schwächere Filme locker aus der Kurve fliegen würden.

"Saint Laurent" als leidenschaftliche Reise in die Einsamkeit

Mit 122 Minuten siedelt „The Homesman“ knapp jenseits der magischen Zweistundengrenze und ist doch elegant längenfrei. Eine halbe Stunde legt Bertrand Bonello für das Biopic „Saint Laurent“ drauf – das zweite binnen Jahresfrist, nach Jalil Lesperts „Yves Saint Laurent“, für das sich in Deutschland 100 000 Zuschauer erwärmten. Diesmal spielt Gaspard Ulliel statt Pierre Niney die Hauptrolle, und er tut es etwas weniger fragil; auch ist die Beziehung zu Pierre Bergé, dem Lebenspartner des Modeschöpfers, hier weniger relevant. Stattdessen inszeniert Bonello ein ganz dem Glanz hingegebenes Leben als immer frenetischeren (Drogen-)Rausch und als leidenschaftliche Reise in die Einsamkeit.

Splitscreens satt, ein dröhnender Score, brüllende Bilder vom Luxuslotterlieben – auch hier geht es, anfangs eindrucksvoll, ums dramaturgisch Repetitive, das nach Länge zu verlangen scheint. Anders aber als etwa Paolo Sorrentino zuletzt in „La grande bellezza“ durchdringt Bonello nicht die fundamentale Äußerlichkeit seines Gegenstands, sondern bildet sie nur ab. Machen wir’s kurz: Längen sind garantiert.

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