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Brillanter Jazzpianist: Chick Corea.

© dpa

Stählerne Brillanz: Dem Jazzpianisten Chick Corea zum 70.

Wenn Chick Corea seine Attacken reitet, brennt fast immer die Luft – und manchmal bleibt ein metallischer Nachgeschmack. Im Juli kommt er in die Zitadelle Spandau. An diesem Sonntag wird er 70 Jahre alt.

Von Gregor Dotzauer

Er konnte von Anfang an fliegen, durch alle Verpuppungen hindurch. Schmetterlingsleicht in den brasilianischen Sphären der frühen Aufnahmen von Return To Forever, raubvogelhaft zupackend in den Suiten der „Three Quartets“ und geradezu kampfjetartig in den Virtuosennummern der Elektric Band. Was immer Chick Corea als Pianist spielte, er tat es mit vollem Einsatz. Damit hat er alle Jazzgenres der letzten fünfzig Jahre durch seine pure Energie an ihre Grenzen gebracht, und er hat sie vom Postbop bis zur Fusion Music neu definiert.

Sein Handwerkszeug erwarb sich der in Boston aufgewachsene Armando Anthony Corea Anfang der sechziger Jahre an der Seite von Mongo Santamarias Latin-Congas und Blue Mitchells Hardbop-Trompete. Aber erst als er den elektrifizierten Hexenkesseln von Miles Davis entstiegen war, die er mit seinem von einem Ringmodulator verzerrten Fender Rhodes Piano aufgerührt hatte, begann seine stilprägende Phase.

Nie hat er sich mehr Freiheiten genommen als Anfang der siebziger Jahre im Trio mit Dave Holland am Bass und Barry Altschul am Schlagzeug: einem jubilierenden, übermütig klappernden, sich zeitweise auch verdunkelnden Klangwolkenwunder, das mit dem Saxofonisten Anthony Braxton zum Circle Quartett erweitert wurde und aus winzigen Motiven Kollektivimprovisationen herstellte. Zwischen inbrünstigem Lyrismus und nervöser Atonalität bis zum Geräusch entstand eine Musik von einzigartiger Dichte.

Neben dem „Song of Singing“ und dem „Paris Concert“ von Circle ist „A.R.C.“ die wichtigste Aufnahme jener Zeit: Wie da, in einer langen Auf- und einer langen Abblende, eine Wolke namens „Thanatos“ vorbeitreibt, hört sich heute noch so aufregend an wie damals. Es ist ein Jammer, dass Corea diese Freiheit, in deren Geist auch seine beiden Soloimprovisationsalben bei ECM entstanden, später nie mehr suchte. Das Trio, das er mit John Patitucci am Bass und Dave Weckl am Schlagzeug gründete, agiert auf demselben energetischen Niveau, aber vom anderen, stärker komponierten Ende des Jazz aus. Die Zügel, die er seiner Musik anlegte, nahmen ihr indes nichts von ihrer inneren Befreitheit, und manchmal, etwa im Duo mit dem Sänger Bobby McFerrin, gelangen ihm spontan noch Dinge, die das Äußerste sein dürften, was zwei Menschen an musikalischer Verständigung zuwege bringen können.

Wenn Corea seine pianistischen Attacken reitet, brennt fast immer die Luft – und manchmal bleibt ein metallischer Nachgeschmack. Verglichen mit dem gleichfalls von Miles Davis herkommenden Keith Jarrett fehlt ihm ein letzter Funken Spiritualität. Nur Freunde aber können wohl beurteilen, in welchem Maß Coreas stählerne Brillanz das Ergebnis einer scientologischen Schulung ist, die alle inneren Hemmnisse und Traumata im Namen eines Übermenschen, des Thetanen, zu überwinden trachtet. Corea hatte 1968 begonnen, sich mit L. Ron Hubbards Lehre zu beschäftigen. Was sich 1971 auf dem Covertext zu „A.R.C.“, den scientologischen Prinzipien „Affinity – Reality – Communication“ noch ganz unschuldig las, ist eben doch mehr als eine beliebige Persönlichkeitstechnik neben Transzendentaler Meditation oder Gurdjeffschen Übungen.

Am heutigen Sonntag feiert Chick Corea seinen 70. Geburtstag – kurz bevor er auf seiner im Februar begonnenen Welttournee mit einer altneuen Return To Forever-Besetzung um Stanley Clarke, Lenny White, Frank Gambale und Jean-Luc Ponty am 1. Juli in der Spandauer Zitadelle auftritt. Wer eine müde Gala älterer Herren erwarten sollte, braucht sich nur auf der Website www.return2forever.com umzusehen: Es wird garantiert ein Fest.

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