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Paulick-Saal

© dpa

Staatsoper-Streit: Lob der Promenadenmischung

Die Lindenoper braucht den Paulick-Saal. Er nützt der gesamten Berliner Opernlandschaft. Die Kontrahenten werden sich auf den alten Saal einigen, meint Christian Thielemann

Was ist Tradition? Wirft man einen Blick auf die neuere städtebauliche Geschichte Berlins: offenbar immer etwas ganz Verschiedenes. Auf Anhieb mutet es absurd an, dass die DDR in den fünfziger Jahren das Stadtschloss in die Luft sprengt und Schloss Monbijou einstampft – während der Architekt Richard Paulick gleichzeitig Sanssouci studiert und das Neue Palais, um sich für den Wiederaufbau der Lindenoper inspirieren zu lassen. Mindestens so absurd ist, dass wir heute den Palast der Republik, ein Stück genuine DDR-Architektur, abreißen, um im selben Atemzug die historische Wiederaufbauleistung des Arbeiter-und-Bauern- Staates an die Unantastbarkeit des Paulick’schen Saals Unter den Linden zu knüpfen. Führt man sich zusätzlich vor Augen, dass es in den Seitenlogen dieses ehemaligen Hoftheaterchens dank Paulick Embleme mit Hammer und Zirkel gegeben hat, dann dürfte die architektonische Klitterung perfekt sein.

Was ist Tradition? Auch ein Gefühl, eine bestimmte Gefühlslage, gerade in einer Stadt wie Berlin, die derart schwer von Kriegswunden gezeichnet war. Insofern ist die Lindenoper in Paulick’scher Gestalt über Jahrzehnte für viele Menschen zu einer zweiten Heimat geworden. Man identifizierte sich mit ihrem Ambiente, ohne im Einzelnen zu realisieren, wie viele und welche historischen Stränge und Schichten sich darin bündeln. Das gilt für die einheimischen Besucher wie für die Scharen von Touristen, die hier nichts anderes suchen als das legendäre Schmuckkästlein in Berlins neuer Mitte – ganz gleich, ob dieses nun Knobelsdorff im Original bietet oder einen durch Paulick geläuterten Knobelsdorff oder Langhans.

Wichtig ist der Plüsch, sind Blattgold und Stuckaturen. Insofern schlägt die sinnliche Erfahrung, das kollektive Empfinden jede höhere „Wahrheit“.

Die Staatsoper Unter den Linden, wie sie sich heute präsentiert, ist eine liebenswerte Promenadenmischung. Ein vergleichbares Gebäude findet sich in ganz Deutschland nicht. Weder in Dresden noch in München, wo man sich nach dem Krieg stets um die größtmögliche Authentizität in der Rekonstruktion des Zerstörten bemüht hat. Die Semperoper wie die Münchner Opernhäuser sind leuchtende Beispiele für dieses Bestreben (und wo man einen neuen Innenraum schuf wie in Frankfurts Alter Oper, ging die Sache prompt schief).

Geschichte aber lässt sich an all diesen Bauten nicht ablesen, und schon deshalb hielte ich es für einen Frevel, an Paulicks Saal Hand an zu legen. Denn er macht transparent, dass es im Osten unter einem sozialistischen Regime offenbar auch darum ging, mit einer bürgerlichen Tradition und Tugend nicht radikal zu brechen. Und dass es dem Volksseelenheil zuliebe eine Kompensation geben musste für den Palast der Republik, für den Alexanderplatz oder die Stalinallee. Die Unteilbarkeit der deutschen Kulturnation, sie sollte sich wenigstens am Beispiel der Staatsoper manifestieren.

Die Gefahr, damit einem Butzenscheiben-Deutschland samt einschlägigem architektonischen Kuschelfaktor das Wort zu reden, erachte ich als gering. Berlin ist nicht Rothenburg ob der Tauber. Bevor man allerdings mit der Geschichte bricht, sollte man sie kennen. Bevor man Paulick eliminiert und dies mit der unzureichenden Akustik des Saales begründet (Architekten wollen immer neu bauen!), sollte man wissen, dass dieses Klagelied mindestens 100 Jahre alt ist. Schon Wilhelm II. wünschte sich ein „Neues Königliches Opernhaus“ in Berlin, mehrfach wurde dafür sogar der Abriss der Lindenoper erwogen. Der Erste Weltkrieg und die Inflation indes vereitelten diese Pläne. Als einzig machbar erwies sich schließlich eine Renovierung der Krolloper – nach einem ebenso langwierigen wie heiklen Wettbewerbsverfahren.

Das Haus wurde am 1. Januar 1924 mit Wagners „Meistersingern“ eröffnet, es dirigierte Staatsopernchef Erich Kleiber. Die Zusammenarbeit der beiden Institute freilich erwies sich als wenig praktikabel, Kleiber kehrte an seinen alten Arbeitsplatz zurück, und Otto Klemperer führte die musikdramatische Avantgarde an der Krolloper zu einer heftigen Blüte. 1931 wurde das Haus wieder geschlossen, in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, hieß es, könne sich Berlin keine drei Opernhäuser leisten. Ein sattsam bekanntes Argument.

Als Dirigent hätte ich natürlich gerne den originalen Knobelsdorff-Bau erlebt, ebenso das Haus zu Zeiten der Weimarer Republik und die während 1942 aus Bombentrümmern wiedererrichtete Variante. Glaubt man Zeitzeugen, soll diese – eine pikante Kreuzung aus Rokoko und Arno Breker, mit Seitenfoyers und viertem Rang – zumindest akustisch sehr zufriedenstellend gewesen sein.

Inhaltlich sind wir in der aktuellen Diskussion nicht viel weiter als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nachdem es zwischen 1955 und 1989 offenbar niemandem aufgefallen ist, wie unzumutbar Paulicks Akustik war, wird die Akustik jetzt ins Feld geführt, um in die alte Kubatur des Hauses einen Saal zu implantieren, der diese ad absurdum führt. Die Abmessungen der Lindenoper haben Grenzen. Das wusste schon Wilhelm II., als er sich ein neues und vor allem größeres, 2500 Plätze umfassendes Opernhaus in Berlin wünschte.

Der wesentliche Unterschied zu den zwanziger Jahren liegt darin, dass es diesen Neubau heute gibt: Er nennt sich Deutsche Oper und liegt an der Bismarckstraße. Ein modernes, großes, mit allen technischen Finessen ausgestattetes Haus. Ein Haus für das große Repertoire, für Wagner, Strauss und die Folgen. Denn eben jenes Repertoire war ja der Anlass dafür, überhaupt neue Wege zu beschreiten! Das heißt: Man dachte Anfang des 20. Jahrhunderts von innen nach außen, man ging vom Musiktheater und seinen veränderten Bedürfnissen aus und formulierte dann die entsprechende Architektur und Akustik.

Für einen wie auch immer optimierten Paulick-Saal bedeutet das: Man kann getrost Stücke ohne großen Chor und großes Orchester spielen, bis hin zum mittleren Verdi. Alles andere wird Unter den Linden seit jeher beklagt. Richard Strauss als Hofkapellmeister hat gejammert und Erich Kleiber bei der Uraufführung des „Wozzeck“ 1926, und Furtwängler verlegte die Konzerte der Staatskapelle eigens aus der Oper in die alte Philharmonie, weil es trotz Konzertmuschel einfach nicht klang.

Mein Traum von der Berliner Opernlandschaft ist ein Traum vom Sieg der Vernunft. Wir könnten in Berlin das weltweit größte Repertoire spielen – wenn wir endlich unseren Reichtum begreifen würden. Den Reichtum von drei unterschiedlichen Häusern mit drei unterschiedlichen Profilen. Man müsste diese Dreifaltigkeit im Sinne der Kunst nur einmal zusammendenken. Vielleicht braucht es dazu eine Art Generalintendanten, das wage ich nicht zu prognostizieren, vielleicht – was die Lindenoper und die Deutsche Oper betrifft – am Ende ein großes Orchester, einen großen Chor, ein großes Ensemble. Und das meint jetzt nicht Fusion, sondern Erweiterung, nicht Zusammenlegen, sondern ein Ausreizen aller Möglichkeiten.

Am Status quo von 1989 hat sich in Berlin kaum etwas verändert, nur die Gewichte haben sich verschoben, und die einzelnen Institute wurden wie die wilden Tiere aufeinandergehetzt. Hier steht die Politik in der Pflicht, und die aktuelle Diskussion um Paulick oder Nicht-Paulick bietet die vielleicht letzte Gelegenheit, die Dinge angemessen und sinnvoll zu ordnen. Indem man der Lindenoper unter Beteiligung des Denkmalschutzes eine verbesserte Akustik und akzeptable Sichtverhältnisse gibt, könnte man mittelbar endlich auch etwas für die Deutsche Oper tun. Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass Berlin nicht willens oder in der Lage ist, sich zwei gleich große Opernhäuser zu leisten. Nun denn: Es lebe die Differenz! Es lebe die Vielfalt! Dafür allerdings brauchen wir Richard Paulick.

Der Autor ist Generalmusikdirektor der Münchner Philharmoniker und stand in dieser Position von 1997 bis 2004 der Deutschen Oper Berlin vor. Aufgezeichnet von Christine Lemke-Matwey.

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