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Kultur: Sorge dich nicht, lese

Eric-Emmanuel Schmitts Bestseller „Oskar und die Dame in Rosa“

LITERATUR

Es ist schon seltsam: Während man in Deutschland über Bildungsnotstand und fehlende Kinderbetreuung diskutiert, über Doppelbelastung, Frauenrollen und hysterisch sich überbietende Kündigungen des Generationenvertrags, erobern zwei kleine Erzählungen aus Frankreich die Bestsellerlisten, die eine ganz andere Sprache sprechen. Beide stammen aus der Feder des 1960 geborenen Eric-Emmanuel Schmitt und sind Rührstücke für Erwachsene aus der Welt der Kinder. Eben erst auf dem deutschen Markt erschienen, jagt „Oskar und die Dame in Rosa“ bereits seinem erfolgreichen Vorgänger, „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“, hinterher.

Beide Erzählungen sind liebenswerte Büchlein, leichte Lektüre mit frei regulierbarem Tiefgang, ideal für ein unterhaltsames Stündchen in der heimischen Sofaecke, Tränen inklusive. Und jedes Mal steht ein Junge im Zentrum, der von seinen Eltern im Stich gelassen wird. In „Monsieur Ibrahim“ ist es der zwölfjährige Moses, dessen Mutter die Familie kurz nach seiner Geburt verlassen hat. Er lebt nun allein mit dem vielbeschäftigten Vater, einem jüdischen Rechtsanwalt, der aus Trauer um seine im KZ ermordeten Eltern dem eigenen Sohn keine Liebe zu geben vermag, ja ihn infamerweise demütigt mit der Erfindung eines älteren Bruders, den die Mutter mitgenommen habe. In Monsieur Ibrahim, dem Krämer an der Ecke, findet Moses Ersatz für alles, was er vermisst. Er ist ein väterlicher, genauer: ein großväterlicher Freund, der dem unglücklichen Jungen das Lächeln beibringt und ihn sogar adoptiert, nachdem sein Vater sich umgebracht hat. Am Ende stirbt auch Monsieur Ibrahim, nicht ohne seinem Ziehsohn die Versöhnung von Juden, Moslems und Christen nahegebracht zu haben, auf der gemeinsamen Initiationsreise in den Vorderen Orient.

Auch in „Oskar und die Dame in Rosa“ gehört die Person, die dem leukämiekranken Oskar Liebe und Trost spendet, der Großelterngeneration an. Die Eltern können den zehnjährigen Jungen nur am Sonntag im weit vom Wohnort entfernten Krankenhaus besuchen. Doch nicht genug damit, dass sie aus Berufsgründen kaum Zeit für den Sohn aufbringen, verstricken sie sich in ihrem eigenen Unglück und versagen aus falsch verstandener Rücksichtnahme auf ganzer Linie. Statt mit dem Kranken über seine Angst vor dem Sterben zu sprechen, überhäufen sie ihn mit Geschenken. Ganze Nachmittage verrinnen beim belanglosen Spiel mit den mitgebrachten Zerstreuungen und beim Studieren komlizierter Spielanleitungen. Da tritt „Oma Rosa“ auf den Plan, eine alte Dame, die ihre Lebensklugheit nutzt, um ehrenamtlich den Kindern beizustehen. Für Oskar erfindet sie sich eigens eine sagenhafte Karriere als Catcherin, ein guter Trick, um dem Jungen allerhand Weisheiten unterzujubeln und seinen Kampfgeist zu stärken.

Sie hat den Mut, mit ihm über den Tod zu sprechen und empfiehlt ihm, sich an Gott zu wenden. Die ganze Erzählung besteht aus Briefen, die Oskar an Gott schreibt, auch wenn er nicht so richtig an dessen Existenz glauben mag. „Warum lässt Gott es zu, dass man krank wird? Entweder ist er böse. Oder er ist eine Flasche“, lautet seine flapsige Fassung des Theodizee-Problems.

Oskar ahnt, dass die Ärzte ihn aufgegeben haben, ja, dass er ihnen fast zur Last wird, weil sie ihre Heilkunst in Frage gestellt sehen: „Offen gesagt, meine Transplantation hat hier sehr enttäuscht. Meine Chemo hatte auch enttäuscht, was aber nicht so schlimm war, weil man auf die Transplantation hoffte. Jetzt habe ich den Eindruck, dass den Medizinmännern auch nichts mehr einfällt, sie können einem leid tun.“ Nur Oma Rosa weiß Rat. Sie schlägt ihm vor, einfach jeden Tag so zu leben, als wären es zehn Jahre. Und so folgt der Leser Oskar durch die letzten Tage seines Lebens, bis er schließlich hundertzehn Jahre alt ist und sich erfüllt zum Sterben niederlegt.

Was fasziniert Erwachsene an diesen Erzählungen nach dem Strickmuster des „Kleinen Prinzen“? Warum sind sie so beeindruckt von kindlicher Tapferkeit und Gottesgläubigkeit? Und welche Verlockung steckt in der Beschränkung auf die kindliche Perspektive? Während die öffentliche Diskussion über die Last der Erziehungsarbeit fast ganz ohne Nachdenken über das seelische Wohl von Kindern auskommt, scheint bei Büchern helles Entzücken auszubrechen, sobald von der verletzlichen Innenwelt des Kindes die Rede ist. Also nichts als banale Kompensation: das Zugeständnis von ein bisschen Wärme, die in der rauen Leistungs- und Neidgesellschaft immer zu kurz kommt? Man darf den Verdacht hegen, dass es schlimmer ist. Was den Erwachsenen an solchen Geschichten gefällt, ist ihre unterschwellige Botschaft: Seht nur her, die Kinder kommen sehr gut ohne euch aus! Und notfalls springt der liebe Gott ein oder es finden sich ein paar Alte, die den Seelenjob übernehmen. So schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe.

Eric-Emmanuel Schmitt: Oskar und die Dame in Rosa. Erzählung. Aus dem Französischen von Annette und Paul Bäcker. Ammann Verlag, Zürich 2003. 105 Seiten, 13,80 €.

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