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Siegfried Kracauer um 1930. Porträt hinter zersprungenem Glas aus dem Schiller-Nationalmuseum in Marbach.

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Siegfried Kracauer Biografie: Ein zerrissenes Selbst

Exilant, Feuilletonist, Romancier: Siegfried Kracauer war eine prägende Figur des Kulturbetriebs der Weimarer Republik. Jörg Später hat nun die erste Biografie über ihn vorgelegt.

Wenn Exil bedeutet, die eigenen Lebensumstände beständig nach unten sinken zu sehen, dann war Siegfried Kracauer der Exilant par excellence. Sein Exil begann im Grunde bereits während der Endphase der Weimarer Republik, als die Wirtschaftskrise immer weitere Einschnitte in Beschäftigung und Bezahlung mit sich brachte.

Kracauer, geboren 1889 in Frankfurt am Main, als promovierter Architekt durch den Ersten Weltkrieg aus der vorbezeichneten Bahn geworfen und zwischen Philosophie und Literatur schwankend, fand sich im Brotberuf eines Mitarbeiters der renommierten „Frankfurter Zeitung“, ehe er bewusst eine Laufbahn als Redakteur in Frankfurt und Korrespondent in Berlin einschlug. Er wurde zu einem der prägenden Feuilletonisten der Weimarer Republik. Zugleich veröffentlichte er mit seiner Untersuchung „Die Angestellten“, erschienen Anfang 1930, die luzideste Darstellung der soziologisch noch kaum erforschten Mittelschichten in Deutschland.

Narzisstische Kränkungen, blanker Neid

Und doch hatte der materielle Abstieg bereits begonnen. Es folgte unmittelbar nach dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933 der Gang ins Exil, nach Paris, das er bestens kannte und das dennoch keine zweite Heimat wurde. Überaus schwierig gestaltet sich der Kontakt zum gleichfalls exilierten „Institut für Sozialforschung“. Dessen Leiter, Max Horkheimer, trägt Kracauer eine nicht geschriebene Rezension von Ende 1930 nach.

Mit anderen Institutsmitgliedern hatte er sich in seiner vermeintlich überlegenen Stellung als Redakteur der „FZ“ verfeindet. Nun bedarf er der Hilfe des Instituts – und wird hinterrücks zurückgestoßen. Der 14 Jahre jüngere Theodor W. Adorno, mit dem ihn Anfang der zwanziger Jahre ein intensive Freundschaft verband, zerreißt die 1937/38 im Auftrag des Instituts geschriebene Studie „Totalitäre Propaganda“ als „weder von eigentlich theoretischem Wert, noch im empirischen Material zureichend fundiert“. Damit nicht genug, schiebt er süffisant hinterher, er habe seine Beobachtungen „zuweilen in literarisch höchst brauchbaren Formulierungen“ ausgedrückt – Kracauer war auch als Romanautor hervorgetreten. Den internen Verriss bekam er zum Glück nie zu Gesicht.

Der Historiker Jörg Später schildert in seiner Biografie die narzisstische Kränkung, zitiert Kracauers Schmähungen gegen das „Institut für Sozialfälschung“ und den blanken Neid auf dessen Leiter Horkheimer und Pollock, die „es verstanden haben, sich als lebenslängliche Direktoren zu etablieren“. Jahre darauf erneuerten sich die Freundschaft und die Hilfe des Instituts, etwa in Gestalt eines Stipendiums in den USA. Es macht die Stärke dieser Biografie aus, dass sie die oft nur scheinbaren Theoriestreitigkeiten in ihren persönlichen Ursachen deutlich macht, ohne in Häme oder Spott zu verfallen.

Wanderungen an den Rändern des Wissens

Doch Kracauers Biografie lässt sich – um einen Lieblingsbegriff des vom Schicksal ähnlich geschlagenen Walter Benjamin zu gebrauchen – nicht wirklich „retten“. Dabei ist Kracauer, immerhin der Autor so bedeutender Arbeiten wie „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“ (1937) und „From Caligari to Hitler“ (im zweiten amerikanischen Exil 1947), seit den 1960er Jahren allmählich in den publizistischen Olymp der Frankfurter Schule aufgenommen worden. Mittlerweile liegt bereits eine zweite, mustergültige Werkausgabe bei Suhrkamp vor. Was indessen fehlte, war eine Biografie, die über die verdienstvolle Chronologie im „Marbacher Magazin“ von 1988 hinausgeht. Die Lücke schließt Jörg Später, der sein monumentales Lebensbild als Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Freiburg hat schreiben können, also nicht aus dem Umkreis der Kracauer-Philologie stammt. Das ist zu betonen, denn Später scheut sich nicht, problematische Aspekte zu benennen.

„Kracauer war extrem eigensinnig“, resümiert er: „Er trieb sich stets an den Rändern der Wissensgebiete herum und war dem Zeitgeist zuweilen voraus.“ Und er lässt Adornos Verdikt anklingen, wendet es indessen ins Positive: „Seine Vorraum-Philosophie war kein großer Wurf wie Adornos ,Negative Dialektik’. Sie war auch nicht so zupackend wie Blochs ,Das Prinzip Hoffnung’ oder Benjamins geschichtsphilosophische Thesen. Aber Kracauer schmiedete sein Eisen in vielen Bereichen. Er gehörte keiner wissenschaftlichen Disziplin an, war aber gleich in mehreren ,wohl gebildet’ ...“ So wird denn auch Späters Biografie ein Gang durch viele Wissensgebiete. Für die Exilzeit ist seine Darstellung besonders ertragreich. Ein Panorama deutsch-jüdischer und amerikanischer Geisteswelten tut sich auf; zahllos die Namen, die erst in Paris und dann, nach der geglückten Flucht via Marseille, Spanien und Lissabon, ab 1941 in New York zu nennen sind. Die Widrigkeiten des Exilantendaseins bilden den schmerzlichen Kontrast zu den Höhenflügen wissenschaftlicher Projekte, die als Hoffnungsanker entworfen werden. Besonders dicht gerät die Schilderung von Internierung und Flucht noch in Frankreich, dann die Ankunft in New York; ohne Larmoyanz und ohne Furcht vor den Niederungen des Alltags.

Die USA werden zum Gelobten Land

Die USA werden für für die Kracauers – Siegfried blieb lebenslang seiner Ehefrau Elisabeth „Lili“ verbunden – zum Gelobten Land. Aufträge zu empirischen Studien trafen ein, und es gab mitten im Kalten Krieg nicht den mindesten Zweifel an der Richtigkeit der Forschungsarbeit für staatliche Stellen.

Bedrückend liest sich die Geschichte um die „Wiedergutmachung“ durch die junge Bundesrepublik, bei der Kracauer noch zu den Glücklichen gehört, die eine monatliche Rente zugesprochen bekommen – ab 1957 in Höhe von 600 D-Mark, 1963 – da war Kracauer bereits 74! – aufgestockt um weitere 245 DM. Am 27. November 1966 verstarb Kracauer in New York an einer Lungenentzündung.

Man kann mit guten Gründen die Feuilletons, die Kracauer in der „Frankfurter Zeitung“ zwischen 1920 und 1933 veröffentlichte, für den Kern seines Lebenswerkes halten. In der Werkausgabe liegen sie, noch immer nur in Auswahl, in vier Bänden vor. In Späters Biografie werden sie in einem einzigen der 40 Kapitel des Buches behandelt. Was ließe sich auch an faktengesättigter Lebensbeschreibung zu den einzelnen Zeitungsartikeln beibringen? Kracauer war ein Meister der Beobachtung des scheinbar Beiläufigen, darin dem befreundeten Benjamin ebenbürtig. „Die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft“, das stammt von Kracauer.

Er wird fassbar und wirkt doch ferner

Später stützt sich die Beschreibung der „Frankfurter Zeitung“ zum Teil auf die bitterbösen Beobachtungen von Joseph Roth, auch er ein zeitweiliger Berlin-Korrespondent. Kracauers Zenit sind die Endzwanziger, da betreibt er, in Späters Worten, „Philosophie, also die Suche nach der Wahrheit, mit anderen Mitteln“. 1927 erscheint in der Zeitung der umfangreiche Aufsatz, dessen Titel zum vielfach missbrauchten Zitat geworden ist: „Das Ornament der Masse“; der Ausgangspunkt zu den späteren „Angestellten“. Was Kracauer damals beobachtete – die Revue-Girls –, ist längst vergessen.

Er besitze keinen Vornamen mehr, schrieb Kracauer an Ernst Bloch, als dieser ihm das Du anbot: „Bitte, sagen Sie Krac zu mir.“ Dieses „Krac“ verfolgte ihn. Durch ihn ging ein Riss, durch die Biografie, aber auch durch sein innerstes Selbst. Mit Jörg Späters Lebensbeschreibung ist Siegfried Kracauer fassbar geworden – und zugleich ferner gerückt, als er es im Glanz der späten Kanonisierung seiner Schriften seit vielen Jahren war.

Jörg Später: Siegfried Kracauer. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 744 Seiten, 39,95 €.

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