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Priorität Kinderschutz. Die meisten Übergriffe gehen von bekannten Personen aus.

© Kitty Kleist-Heinrich

Sexismus-Debatte: Blinde Flecken auf dem Spiegel

Wer die Gründe für sexuelle Gewalt verstehen will, muss auch auf familiäre und gesellschaftliche Tabus schauen.

Von Caroline Fetscher

Alle naslang ein Skandal, ein Fanal. Sexisten sind unter uns! Belästiger von Frauen und Kindern, Übergriffige, Vergewaltiger, Pornokonsumenten. Ja, dieser beliebte Sporttrainer, der war’s. Oder der ehrenwerte Priester, der unbekannte Ausländer, der bekannte Filmproduzent, der steinreiche Popstar und sogar der seriöse Politiker.

Schlimm, schlimmer, am ärgsten! Nun muss endlich Schluss sein! Fast jedes Mal deuten die Skandalfinger auf die schimpfliche Ausnahme, den Einzelfall, den Ausreißer. Ausgerechnet der! Wer hätte das gedacht?! Angesichts kollektiver Fälle formiert sich ein Bündel von Skandalwegweisern und zeigt auf das „unerklärliche“ Cluster, die Häufung von Einzelfällen, nicht nur in frommen wie säkularen Internaten, Heimen, Anstalten, sondern auch in Büros aller Branchen.

Auf allen Kontinenten kamen und kommen Taten ans Licht

Die jüngere Gegenwart wird von Enthüllungen über sexualisierte Gewalt überrollt, die sich zu einer Kette aus Hypes addiert. Sind prominente Individuen und Institutionen im Spiel, expandiert die mediale Dynamik, das Thema wandert in Tagesschau, Talkshows und Tatort. Vom Canisius-Kolleg über die Odenwaldschule zu den Regensburger Domspatzen reicht die Kette, vom BBC-Star Jimmy Savile zum Hollywood-Mogul Harvey Weinstein. In Portugal wurde 2008 ein Pädophilenring der staatlichen Heimkette „Casa Pia“ ausgehoben, Mittäter waren ein TV-Moderator, ein hochrangiger Diplomat, ein renommierter Arzt. In London verschwanden mit Akten aus den 80er Jahren Belege für die Beteiligung von Regierungsbeamten am Westminster- Skandal. Auf allen Kontinenten kamen und kommen Taten ans Licht. Erste Schritte werden gegangen auf dem Weg zu mehr Wissen über unsere Gesellschaften. Doch es sind nur kleine Schritte, allererste.

Thrill und Empörungsgenuss verdecken das volle Bild

Da blickt die Gattung in der Gegenwart verstört in den Spiegel: Was ist bloß los? Woher die viele sexuelle Gewalt? Angeboten wird als Antwort: Die Gewalt lauert da draußen, in den Büros, Schulen und Heimen, den Vergnügungsorten und Vereinen. Da draußen treiben einige Schweinekerle, ihr Unwesen. Wir, die Mehrheit, müssen sie, die Anderen, zu fassen kriegen. Dann hört das auf! Doch der Spiegel hat blinde Flecken und die wahrere Antwort lautet anders. Sie liegt in den tieferen Tabus, unter den opaken Stellen des Spiegels. Was sich darunter verbirgt, das bietet weder medialen Thrill und Empörungsgenuss noch spontane Hashtag-Befriedigung. Das volle Bild ist komplexer, schmerzhafter, und eben darum tabubehafteter, als die alltägliche, mediale Konsumierbarkeit bisher erlaubt. Indem man die Taten umwidmet zur Sensation, hält man sich das Thema im Wortsinn vom Leib. Es wird aufgegriffen, aber nicht begriffen. Darum haftet der Hype-Dynamik etwas fast Rührendes an, denn sie enthüllt und verhüllt zugleich, sie ist in sich ein sprechendes Symptom, das nur durch Auslassung offenbart, um welche Tabus es im Kern geht. Es sind viele, ihre Genese ist vielfältig. Sie lassen sich in der Kürze nur skizzieren.

Über 90 Prozent aller sexuellen Delikte geschehen im engsten Kreis

Das erste Tabu: Sexuelle Gewalt entsteht in erster Linie in den Familien, im intimen Umfeld. Private Intimräume sind weltweit die Treibhäuser sexualisierter Gewalt. Keineswegs existiert die Gewalt „da draußen“ bei devianten Delinquenten oder dysfunktionalen Institutionen. Sie entsteht vielmehr drinnen, mitten in der Gesamtgesellschaft. Eine Unicef-Studie von 2016 schätzt, dass allein 120 Millionen Mädchen weltweit sexuelle Gewalt in erheblichem Ausmaß erfahren. Hinzu kommen viele Jungen. Längst wurde das endemische Vorkommen sexueller Gewalt faktisch ermittelt – öffentlich aber nur marginal vermittelt. Mehr als 90 Prozent aller sexuellen Delikte werden erwiesenermaßen in Familien und in deren Umfeld begangen. Hier geschehen die aktuellen Taten, hier entstehen die späteren Täter; im Norden und Süden, im Westen und Osten der Welt, wenn auch auf je unterschiedliche Weise.

Mütter sind häufig Teil des Missbrausszenarios

Priorität Kinderschutz. Die meisten Übergriffe gehen von bekannten Personen aus.
Priorität Kinderschutz. Die meisten Übergriffe gehen von bekannten Personen aus.

© Kitty Kleist-Heinrich

Das zweite Tabu: Zur sexuellen Gewalt gehört nirgends ein Geschlecht allein, Täter sind nicht nur männliche Menschen. Sexuelle Gewalt wird möglich auch durch direkte oder indirekte Komplizenschaft von Frauen, und Frauen können auch Haupttäterinnen sein. Am portugiesischen Fall war eine vermögende Immobilienbesitzerin beteiligt. Auch Nonnen haben, etwa in den Niederlanden, Mädchen misshandelt und missbraucht. Frauen jedweder Herkunft sind beteiligt am Milliardengeschäft mit Videos und Fotos, die den Missbrauch von Kindern zeigen. Mütter und Großmütter in muslimischen Staaten betreiben aktiv die Genitalverstümmelung von Mädchen.

Als die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Bundesrepublik im Juni 2017 ihren ersten Zwischenbericht veröffentlichte, präsentierte sie einen bestürzenden Befund. Die Mütter, die Frauen im familiären Umfeld der Missbrauchten, sind Teil des Szenarios. „Mütter treten nach den Erkenntnissen der Kommission auch als Einzeltäterinnen auf“, heißt es, „aber vorwiegend als Mitwissende und damit als Unterstützende der Taten.“ Sie duldeten die Taten, da sie sich abhängig fühlen, selber Gewalt erfahren haben oder beides. Fast nie glauben Mütter betroffenen Kindern oder schützen sie. Bei der Kommission können sich alle melden, die zur Aufklärung beitragen und gehört werden wollen, Tausende haben das schon getan (Telefon: 0800 40 300 40).

Heranwachsende assoziieren Intimität mit Übergriffigkeit

Mütter, weibliche Verwandte, projizieren ihren Selbsthass durch erlittene Gewalt auf Töchter, auf Kinder. Sie nutzen sie als Blitzableiter und Sündenböcke. Was die Tochter abbekommt bleibt der Mutter erspart, und das Mädchen als „Rivalin“ kann zudem als schwach, schlecht, charakterlos verworfen werden. Neid missbrauchter Erwachsener kann mitmischen, wenn die Jüngeren Glück und Lust erleben, die die Älteren nie hatten. Nicht selten holen sich frustrierte Mütter den Sohn oder die Tochter als Kuschelkind ins Bett. Manche klammern am Kind wie an einem Teddy, der selber nicht lebendig sein und werden darf. Wo Töchter missbraucht werden, bekommen Söhne es mit. Wo Söhne missbraucht werden bekommen es Töchter mit.

Heranwachsende assoziieren Intimität mit Machtgefälle, Übergriffigkeit, Distanzarmut und Gewalt. Ihre Lektion lautet: Ein mächtiger Mensch darf einen ohnmächtigen Menschen physisch zu seiner Lust benutzen, als Mittel zum Zweck. Nichts anderes tun die Harvey Weinsteins dieser Welt. Wer solches Gefälle erfahren hat, für den wurde das Kontaminieren kindlicher und pubertärer Sinnlichkeit zur Norm. Bleibt der Prozess unbewusst, wird das später, in transgenerationeller Weitergabe der Traumata, wiederholt.

Missbrauch geschieht in Luxusinternaten genauso wie in Slums

Das dritte Tabu: Ursache sexualisierter Gewalt ist nicht nur das arme Milieu, die widrigen Umstände. Missbrauch geschieht in Luxusinternaten und Slums, bei Millionärsfamilien wie in Pfarrhaushalten und unter Arbeitslosen. Eine zentrale Voraussetzung für Sexualdelikte ist das destruktive Entknüpfen von Liebe und Eros auf der einen, Trieb und Sex auf der anderen Seite. Dieses Auseinanderzerren enthält viele Elemente, vor allem aber Desexualisierung und Hypersexualisierung. Traditionelles Machtgefälle zwischen den Geschlechtern gehört dazu, sittlich und religiös konstruierte Tabus, biedermeierlich-säkulares Leugnen von Lust und Sinnlichkeit, und, am anderen Ende des Spektrums, kommerzorientierte repressive Toleranz, sexistische Ikonografie in der Unterhaltungsindustrie und Produktsphäre. In jedem der Fälle wird die kreative Geschlechterspannung verdreht, pervertiert, entmenschlicht.

Unsere Gattung lernt ihr Unbewusstes gerade erst kennen, seit rund hundert Jahren – das ist wenig. Einiges wäre gewonnen, wenn sie den Spiegel, in dem sie sich anschaut, ein bisschen poliert.

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