zum Hauptinhalt

Sesamstraße: Wieso, weshalb, warum?

Anarchie und Scharfsinn: Die "Sesamstraße" wird heute 40 Jahre jung. Tagesspiegel-Autoren über die erste Familiensendung.

Sesamstraße ist wie Lagerfeuer. Von Anfang an versammelte man sich vor dem flackernden Bildschirm, die ganze WG, die ganze Familie. Am 10. November 1969 erstmals in den USA ausgestrahlt (und vier Jahre später auch hierzulande), ist die „Sesamstraße“ das früheste mediale Gemeinschaftserlebnis für die 70er- und 80er-Jahrgänge, kollektive Bewusstseinsbildung, Kultsendung, Gruppenritual. Wer, wie, was? Willst du ein T kaufen? Genauuu! Kindermythen in Tüten. Ernies Keckern, Berts Grummeln, Kermit, der Frosch, Graf Zahl, der Buchstabenschmuggler im Trenchcoat: All diese Sonderlinge verteidigen das Recht auf Unsinn und Eigensinn, auf Gaga und Griesgram. Pädagogisch wertvoll? Ja, schon, aber mit anarchischer Note.

Wenn in dieser Welt ohne Erwachsene doch mal Erwachsene auftauchen, dann, um den Sound zum Straßenfest zu liefern – jedenfalls im amerikanischen Original. Harry Belafonte und Susan Sarandon buchstabieren das Alphabet, Norah Jones besingt das Ypsilon („Don’t know Y“), Andrea Bocelli wiegt Elmo in den Schlaf („Time To Say Goodbye“), Kylie Minogue schmachtet Kermit an („Especially For You“), Stevie Wonder bringt Grobi den Groove bei, Ray Charles widmet dem Frosch „It’s Not Easy Being Green“ (Spätgeborene können das alles auf Youtube nachgucken). Spätestens wenn Robert de Niro dem Elmo-Monster erklärt, was ein actor ist, sich in einen sprechenden Kohlkopf verwandelt und in Elmos Alter Ego Elmo II, vereint die Sesamstraße Pop, Philosophie und Schauspielkunst.

Die deutsche Ausgabe verniedlicht all das, der knuddelige Samson-Bär, der quietschrosa Tiffy-Vogel, die immer fröhliche Lilo wirkten und wirken angestrengt. Egal. In der „Sendung mit der Maus“ wurden ausgewachsene Fernsehprofis zu Spieltriebtätern, wenn sie mit Spezialkameras die Millisekunde einzufangen versuchten, in der das Maiskorn zum Popcorn explodiert. Die „Sesamstraße“ enteignet das Medium gleich komplett, samt seiner Stars, für die Botschaft: Ob laut oder lausig – bleib, wie du bist! Das Fernsehen als Schule des Selbstbewusstseins. Christiane Peitz

Vor vielen Jahren – Ernie, Bert, Grover, Kermit, Elmo und all die anderen waren damals noch in ihren Zwanzigern – verließen drei Paare ein Restaurant in einer amerikanischen Kleinstadt an der Ostküste, verwickelt in ein Streitgespräch über die Art der Beziehung von Ernie und Bert. In den USA sagt man Bert und Ernie, das nur nebenbei. Für uns Europäer war es klar wie Kloßbrühe: Ernie und Bert sind schwul, und sie versuchen auch gar nicht, es zu verstecken. Unsere amerikanischen Freunde und Verwandten waren von dieser Enthüllung so geschockt, dass der Fahrer – wir hatten uns inzwischen zu sechst in ein Auto gezwängt – rückwärts einen geparkten Wagen rammte.

In eine klassische Ernie & Bert-Situation waren wir da geraten. Ernie baut gut gelaunt Mist, hinterlässt eine Spur von Chaos und Verwüstung, während sein Freund Bert seine muffelige Denkerstirn in tiefe Sorgenfalten legt – oder gleich in Ohnmacht fällt. Und wie in der S-Straße Konflikte in der Nachbarschaft bleiben, ließ sich auch unser Problem (Kleinstadt eben, man kennt sich) ohne die Cops regeln.

Aber ganz im Ernst: Jim Hensons Monsterpuppen sind Kinder ihrer Zeit, Blumenkinder. Sie lieben Buchstaben, aber nicht das Gesetz. Sie zählen gern, aber bezahlt wird nicht. Sie kamen auf die Welt, als die Welt sich neu erfand. 1969 stand nicht nur ein gewisser Neil Armstrong auf dem Mond, es wurde nicht nur in Woodstock massenhaft musiziert und fraternisiert, es wehrten sich auch erstmals Homosexuelle gegen Razzien in New York; woraus der Christopher Street Day entstand.

Sessamie-Street, heißt es eigentlich. Sesam, öffne dich. In Berlin gründete sich in jenem Jahr das Grips-Theater. Happy Birthday, ihr 69er! Rüdiger Schaper

Unsere Tochter hat noch nie die „Sesamstraße“ gesehen – trotzdem ist Ernie schon ihr bester Kumpel. Sie weiß allerdings nicht, dass Ernie Ernie heißt. Unsere Tochter nennt ihn einfach den Doktor. „Ich will den Doktor“, sagt sie jetzt abends. Früher wollte sie ihre Puppe („Püppi“), noch früher ein Gutenachtlied („Moond“). Wir geben ihr also Ernie, den ein Freund nur unter dem stillen Protest meiner Frau in unsere Wohnung hat einschmuggeln dürfen, denn Ernie ist nicht gerade ein Waldorf-Spielzeug: Quietschorange, trägt Ernie eine supersynthetische Shorts, auf dem Kopf stehen ihm ein paar schwarze Büschel, die sich sehr künstlich anfühlen. Unsere Tochter liebt Ernie. Zufrieden nimmt sie ihn in den Arm – und wir verlassen das Zimmer.

Dann geht das Spektakel los. Krrrrr, macht Ernies heisere Stimme und fragt aufgekratzt: „Kannst du mal gucken, ob ich Fieber habe?“ Dann drückt unsere Tochter im Dunkeln auf Ernies Zunge, und „der Doktor“ jubelt: „Nicht zu heiß, nicht zu kalt. Genau richtig.“ Ein Trommelwirbel scheppert im Bauch der Puppe, Bumm-bumm, macht Ernies Herz, taröö prustet seine Nase, und das Kind gluckst glücklich, wenn es die richtigen Sensoren unter dem Stoff findet. Und wenn wir ins Zimmer kommen, sieht es uns aus großen Augen an, als wäre nichts gewesen.

Tagsüber klingt das Lachen unserer Tochter manchmal richtig dreckig. Andreas Schäfer

Als die „Sesamstraße“ zum ersten Mal im deutschen Fernsehen lief, 1973, schaltete der Bayrische Rundfunk sich aus. Begründung: Die „Sesamstraße“ sei zu amerikanisch. Sie sei zu schnell und überfordere die Kinder, sie übe einen schlechten Einfluss aus. Als besonders kinderschädlich wurde die Figur Oscar empfunden, ein Monster mit grünem Zottelfell, das in einer Mülltonne lebte und ständig schlechte Laune hatte. Oscar liebte allerdings schlechte Laune, er liebte auch Dreck, er war sozusagen andersrum und sollte den Kindern beibringen, dass auch negative Emotionen normal sind. Sie sollten lernen, ihren negativen Emotionen gelassen gegenüberzustehen. Nicht in Bayern! Es dauerte Jahre, bis negative Emotionen für bayrische Kinder offiziell erlaubt wurden.

Das heißt, es gibt eine ganze Generation bayrischer Kinder, die anders aufgewachsen ist als die übrigen westdeutschen Kinder – ein großes Menschenexperiment. Der prominenteste Vertreter dieser Generation ist der Politiker Markus Söder, Jahrgang 1967. Er hat verlangt, in den Schulen regelmäßig die Nationalhymne zu singen, Kruzifixe aufzuhängen, Kopftücher zu verbieten, er ist oft sehr aufgeregt und schimpft, ihm fehlt jegliche Gelassenheit, seine negativen Emotionen betreffend. Wer den Einfluss der „Sesamstraße“ auf die deutsche Alltagskultur von heute studieren möchte, sollte sich mit Markus Söder befassen. Harald Martenstein

Zur Startseite