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In den Trümmern des eigenen Lebens. Szene aus „Die letzten Männer von Aleppo“.

© SWR/Aleppo Media Center

Sechs Jahre Syrien-Krieg: Die heroische Arbeit der Weißhelme von Aleppo

Sie retten Menschen aus den Trümmern - unter Lebensgefahr. Zwei Dokumentarfilme begleiten die Weißhelme in Syrien. Sie zeigen, warum wir Bilder aus dem Bürgerkrieg brauchen.

Sie schauen in den Himmel, es ist die Hölle, die von dort droht. Fassbomben, Streubomben, meist fallen sie aus russischen Flugzeugen. Tanzende Punkte in der Luft, es sieht arglos aus, dann die Rauchwolken, die zwischen den Häusern aufsteigen, die eine bizarre Schönheit entfalten, wie der Feuerschein in der Nacht. Aber die Himmelsgucker haben keine Augen dafür, sie sind Weißhelme, syrischer Zivilschutz, sie interessieren sich nur für die Location. Sobald Rauch aufsteigt, springen sie in ihr klappriges Auto und rasen zur Einschlagsstelle, um in den Trümmern Verschüttete zu bergen, Frauen, Männer, Kinder.

Leben retten, Tote sehen, es ist mein Job, meine Pflicht, sagt Khalid in der 40-minütigen Netflix-Dokumentation „Die Weißhelme“, die gerade einen Oscar gewonnen hat. „Ich habe mit Politik nichts zu tun, ich rette Leute“, sagt Nagieb, einer der Protagonisten in Feras Fayyads 110-minütigem Dokumentarfilm „Die letzten Männer von Aleppo“, der jetzt in die deutschen Kinos kommt. Beide Filme konfrontieren einen unmittelbar mit dem Irrsinn des Kriegs in Aleppo: Belagerung einer Stadt, Belagerung der Zivilbevölkerung, des Alltags, Luftangriffe, 20, 30, 100 am Tag.

Fußball in Ruinen

Die Männer spielen Fußball zwischendurch, die kleine Tochter leidet unter Vitaminmangel, die Kinder machen Hausaufgaben, dann heißt es wieder rennen. Die Weißhelme waren früher Schneider oder Schmied oder Bauarbeiter. Bei der Schnellschulung kurz hinter der türkischen Grenze lernen sie, wie man Abhörsensoren und Steinschneider benutzt. Wieder zurück, arbeiten sie sich mit Kreissägen, Baggern und bloßen Händen durch den Schutt, seilen sich an zerstörten Fassaden ab, bergen ein noch lebendes Baby und brechen in Tränen aus.

Khaled weiß, es wäre besser, dauerhaft wegzugehen, wegen der Kinder. Aber er kann nicht, es gibt so viel zu tun. Manchmal ziehen sie nur Leichenteile aus den Trümmern, manchmal kann ein Angehöriger einen Toten nur noch an den Zehen erkennen, oft werden die Weißhelm-Zentren der Assad-Gegner selber bombardiert. Nun rennen die Helfer und die Kamera rennt mit. Von knapp 3000 Weißhelmen in ganz Syrien sind seit 2013 über 250 gestorben. 60 000 Leben haben sie seitdem gerettet.

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Oder ist das alles Propaganda? Die Weißhelme gehören zur Opposition, sie sind Teil der heillosen Gemengelage im Syrienkonflikt. „Die letzten Männer ...“ entstand über knapp zwei Jahre in Zusammenarbeit mit den Bürgerjournalisten des Aleppo Media Center, das internationale Nachrichtenagenturen und Sender mit Handy-Footage versorgt und gelegentlich wegen der Nähe zu oppositionellen Milizen in die Kritik gerät. Aber man wird schnell kleinlaut mit solchen Zuschreibungen. Zu sagen, Syrien ist zu kompliziert, ist eine Ausrede, um nichts zu unternehmen, meint der Syrer Fayyad mit Blick auf den Westen. Er realisierte den Film gemeinsam mit dem Dänen Steen Johannessen von Kopenhagen und der Türkei aus.

Wir sind überall dabei

Es stimmt schon, die Dokus sind nicht frei von Propagandaästhetik und Heldenstilisierung. Vor allem der Netflix-Film des Briten Orlando von Einsiedel greift auf die Geschmacksverstärker des Mainstreams zurück, auf Streicherpathos, Slowmotion-Effekte und melodramatische Zuspitzung. Aber wer, wenn nicht diese Männer, hat Heldenverehrung verdient? Lieber gar keine Bilder aus dieser unzugänglichen, verlorenen Stadt?

Jeder Krieg, schrieb der britische TV-Dokumentarfilmproduzent Nick Fraser kürzlich im „Guardian“, definiert sich über die Art, wie über ihn berichtet wird. Die Leica im Spanischen Bürgerkrieg, die Schwarz-Weiß-Wochenschauen im Zweiten Weltkrieg, Vietnam in Farbe, die „embedded journalists“ mit ihren digitalen Kameras in Bosnien und Irak und heute die Handybilder, die Echtzeit, Authentizität und Nähe versprechen.

Wir können jederzeit überall dabei sein, Cinema Verité ist das Gebot der Stunde. Aber es gibt ein Problem: Schon die Video-Tagebücher der Samisdatgruppe Saga Anfang der neunziger Jahre im Bosnienkrieg wollten nur wenige sehen, obgleich Arte sie ausstrahlte. Zu grausig die Aufnahmen etwa von zerfetzten Anschlagsopfern. Wie lange lässt sich ein menschlicher Körper noch als solcher identifizieren? Wie halte ich es mit der Moral, wenn der Krieg täglich ins friedliche Wohnzimmer dringt?

Und: Wie setzt man Ereignisse ohne Katharsis, ohne Hoffnung ins Bild, wenn man es weniger melodramatisch will? Gibt es das überhaupt, eine dem Grauen angemessene, den Voyeurismus vermeidende Ästhetik? Eine Möglichkeit ist Selbstreflexion, wie sie die ebenfalls dänisch-syrische Koproduktion „The War Show“ unternimmt. Der Krieg als Show, im Wissen darum, dass die Kamera nicht als neutraler Zeuge fungiert, sondern als Kombattant. Die Erzählung über junge Syrer vom Arabischen Frühling über die systematische Radikalisierung des Protests bis zur Traumatisierung war 2016 unter anderem auf dem Filmfest von Venedig zu sehen.

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Eine andere Möglichkeit ist Surrealismus, im Wissen um den Irrwitz des Kriegs, der die Vorstellungskraft übersteigt. Bleiben oder Gehen: Wer in Aleppo lebt, kann sich gar nicht angemessen verhalten, das immerhin begreift man in „Die letzten Männer ...“. Die Angst kippt in derben Humor. Der Übermut, die Kinder in einer Feuerpause zum Spielplatz zu karren, schlägt in Panik um. Und die Sehnsucht nach Normalität lässt Khaled, Mahmoud, Nagieb und die anderen einen Brunnen im Innenhof bauen, mit kleinen Goldfischen darin, ein bizarres Idyll. Eines Abends bittet Mahmoud seine Kollegen, das Trümmerfeld früher verlassen zu dürfen, er will zu einer Hochzeit. Und Khaled kommt nicht damit klar, dass ein Junge ihn unbedingt zum Kaffee dabehalten will, weil er ihm das Leben gerettet hat. Er kann jetzt nicht Kaffee trinken, er muss wieder los.

Clooney arbeitet an Weißhelme-Film

Auf Festivals häufen sich derzeit die Produktionen aus und über Syrien, alleine in Sundance liefen drei Dokumentarfilme, Fayyads Film gewann den Großen Preis der Jury. Auch Spielfilme entstehen, George Clooney arbeitet an einem Weißhelme-Film, und die Berlinale zeigte „Insyriated“, ein Kammerspiel über die Okkupation der Seelen und die Unmöglichkeit, in einer Stadt wie Aleppo moralisch integer zu bleiben. Viele der dokumentarischen Bilder sind unter Lebensgefahr entstanden, nicht leicht, sich ihnen auszusetzen. Aber wer wissen will, wie es im 21. Jahrhundert um die Menschlichkeit bestellt ist, der sollte es tun. Und wer meint, es kommen zu viele Flüchtlinge nach Deutschland, der kann sehen, warum sie kommen. Und wovon Europa sich abwendet.

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