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Kultur: Schreib deinen Traum an die Wand

Zombies, Sklaven, Gymnastik: Die Kunst-Biennale in Lyon setzt auf die Kraft der Erzählung.

Eigentlich ist es die Geschichte eines Helden. Tommie Smith gewinnt 1968 bei den Olympischen Spielen von Mexiko in der Rekordzeit von 19,83 Sekunden den 200-Meter-Lauf . Anschließend hätte der US-amerikanische Athlet seine strahlende Karriere problemlos fortsetzen können. Doch er streckt die Faust zum Zeichen des Kampfes gegen die Rassentrennung in seinem Heimatland, als ihm die Medaille um den Hals gehängt wird. Sofort bekommt er sie auch schon wieder abgenommen. Der IOC sperrt den 24-Jährigen zeitlebens. Politische Meinungsbekundungen sind tabu, bis heute.

Der US-Künstler Glenn Kaino erzählt Smith’ Geschichte 45 Jahre später erneut – als verkappte Heldentat bestehend aus Leerstellen. Der Titel seiner Arbeit: „19,83“ als Hommage an die annullierte Spitzenzeit. Kaino reiht die Bilder des legendären Spurts zu einem Fries, aus dem der Läufer eliminiert ist. Nur noch eine verwischte Spur erinnert an ihn. Dazu stellt er ein goldglänzendes Podest. Den Sieger darauf muss man sich denken.

„19,83“ ist eine von über 70 künstlerischen Narrationen, die auf der 12. Biennale in Lyon vorgetragen werden. Die wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst in Frankreich wird damit zum gigantischen Geschichtenbuch, das sich jedoch nicht so einfach lesen lässt. Glenn Kainos Erzählung ist vielleicht die einfachste, die klarste, die sich unmittelbar erschließt – mit Anfang, Höhepunkt und dramatischem Ende. Ja, sie scheint sogar eine heilende Kraft zu besitzen. Doch damit steht Kaino ziemlich allein. Die Geschichten, die der isländische Biennale-Kurator Gunnar Kvaran erzählen lässt, enden selten versöhnlich, sondern explodieren. Ihre Einzelteile muss der Betrachter für sich wieder zusammenfügen. So zeigt die 12. Ausgabe der Biennale von Lyon vornehmlich Installationen, in denen die Bruchstücke symbolträchtig zu verstörenden Assemblagen arrangiert sind.

Die Französin Aude Pariset lässt kopflose Figuren in Alltagskleidung von der Decke baumeln oder als zusammengesunkene Torsi auf dem Boden liegen. Es sind Zombies, wie die in Berlin lebende Künstlerin erklärt, die in einer Parallelwelt des Konsums leben. Noch drastischer führt das amerikanische Performance-Duo Ryan Trecartin und Lizzie Fitch vor, woraus heute die Geschichten gestrickt sind. In ihrem Skulpturen-Theater dreschen sie überdreht auf Autos ein, kippen sie um, schwadronieren konfus in die Kamera. Mit exzessiver Leidenschaft steigern sie den Trash von Vorabendserien ins Wahnhafte weiter. Das Leben eine Soap für Irre, eine außer Kontrolle geratene Story für Youtube. Oder noch nihilistischer: eine Kriegserklärung an die Zukunft mit animierten Muskelmännern wie in Ian Chengs Film „Entropy Wrangler“.

„In der Zwischenzeit, plötzlich, und dann“ hat Kvaran seine Biennale überschrieben, als gäbe es doch noch eine zeitliche Reihenfolge, eine innere Logik. Er selbst glaubt schon lange nicht mehr daran, seit er als Student in den Siebzigern im französischen Aix-en-Provence die Poststrukturalisten kennenlernte und zum Bewunderer des Filmemachers und Romanciers Alain Robbe-Grillet wurde, der seinen Geschichten prinzipiell eine Chronologie versagt. Als Sohn eines abstrakten Malers reizte Kvaran außerdem immer schon die Gegenseite zur reinen Lehre der Farben und Formen. Die lust- oder auch peinvolle Fülle des Lebens, der konkreten Wirklichkeit spricht aus allen Werken, die er ausgesucht hat.

Die zweite Figur neben Robbe-Grillet, die für diese sehr persönliche und deshalb auch so reizvolle Biennale Pate steht, ist der isländische Comiczeichner und -maler Erró. Von seinen Bildwelten wird die Spur zu den Brutalitäten des Alltags, der Politik gelegt. Die Ausstellung zeigt zwei seiner großformatigen Gemälde in Grisaille, die den Kriegsterror durch plastische Überzeichnung anprangern.

Dritte Bezugsperson der Schau ist Yoko Ono. Mit ihr teilt Kvaran trotz pessimistischer Gegenwartsanalyse die kindliche Vorstellung, dass sich mit ganz festem Wünschen die Welt doch noch zum Besseren fügen könnte. Jeder Besucher darf online seinen größten Traum posten, der dann via LED-Tafel für alle lesbar wird: dass die USA den Militärschlag in Syrien letztlich bitte nicht nur wegen Öl erwägen, schreibt da jemand. Ein anderer, offensichtlich Künstler, wünscht sich endlich ein Atelier zu finden.

Und doch steckt mehr als Naivität dahinter. Dafür ist Yoko Ono schon viel zu lange unterwegs. Welchen Preis dieser Glaube an das Gute haben kann, zeigt ihre Performance „Cut Piece“ von 1964. Die Zuschauer dürfen sich Stücke aus dem Kleid der Künstlerin schneiden, bis sie nur noch im BH auf der Bühne sitzt. Die Sprengkraft dieser Inszenierung besteht in der Schamlosigkeit der letzten Mitakteure aus dem Publikum. Das Geschenk der Partizipation wird gnadenlos ausgenutzt.

Erzählkraft, Emphase, Ehrlichkeit – das sind die Eigenschaften der von Kvaran ausgewählten Werke. Er hat sich Stars der zweiten Generation geholt wie Jeff Koons, Mathew Barney, Robert Rober, Bjarne Melgaard, die er vor allem im Musée d’art contemporain zeigt. Zwischen ihren gewichtigen Präsentation sind Neuentdeckungen zu machen wie der junge Brasilianer Paulo Nimer Pjota, der seine Bildtafeln – Metallplatten oder hölzerne Bretter – auf der Straße findet. Darauf malt er Motive des Alltagslebens in São Paulo, Totenköpfe, Schlangen, Ketten, Slogans, die sich mit dem Bildgrund zu einer ganz eigenen Collage verweben.

Eher vage hintereinandergefügt wirkt La Sucrière, der Biennale-Hauptort, eine ehemalige Zuckerfabrik am Zusammenfluss von Rhône und Saône. Hier verdichten sich die Geschichten zur reizvollen Kakophonie. Ming Wongs filmische Trilogie „Me in Me“ mit ihm selbst in allen Hauptrollen bildet einen Höhepunkt. Der in Berlin lebende Singapurer lädt spielerisch zu einer unglaublichen Reise durch Zeit, Raum und wechselnde Identitäten ein. Der Brasilianer Paulo Nazareth begab sich konkret auf die einstige Sklavenroute von Johannesburg nach Lyon und brachte „Cadernos de Africa“ mit, Fotografien von Menschen unterwegs, die auf ihre Weise ebenfalls von Migrationserfahrungen berichten.

Die von den Künstlern erzählten Geschichten sind bitter, heiter, ergreifend, brutal, zart und immer wieder kryptisch. Vielfach scheinen sie selbst nicht zu wissen, wem sie erzählt werden sollen. Das ist bei Madein Company, einem Künstlerkollektiv aus Schanghai, anders. Mit untergründigem Humor appelliert Gründer Xu Zhen an die große Gemeinschaft. Er analysiert verschiedene rituelle Hand- und Körperbewegungen durch die Jahrhunderte und Kulturen von den Buddhisten bis zu Moskauer Demonstranten – segnende Hände, gehobene Arme, tiefe Verbeugungen. All diese in ausgeschnittenen Bildchen dargestellten Gesten vereint er in Vitrinen zu einem „Museum der Bewusstseinsphysiognomie“.

Der Kunsthistoriker Aby Warburg hätte seine Freude daran gehabt, der heutige Besucher aber muss vor allem schmunzeln. Denn Xu Zhen geht mit seinem Forschungsprojekt noch ein Stück weiter. Die große Menschheitsgeschichte und deren Rituale verdichtet er zu einer einzigen Gymnastikstunde, indem er sämtliche Bewegungen zusammenreiht. Religion und Fitness fügen sich hier zusammen. Das ist zwar kein Happy-End, aber eine schöne Pointe bleibt es trotzdem. Nicola Kuhn

Biennale de Lyon, bis 5. Januar;

www.labiennalelyon.com

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