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Der Berliner Schlagzeuger Christian Lillinger, 32.

© Konstantin Kern

Schlagzeuger Christian Lillinger: Die Energiemaschine

Christian Lillinger ist derzeit Deutschlands spannendster Jazz-Schlagzeuger. Ein Porträt des Berliner Musikers.

Er setzt sich und sofort beginnen die Finger seiner linken Hand mit aberwitziger Geschwindigkeit einen Rhythmus auf die Tischplatte zu hämmern. Christian Lillinger scheint es nicht zu bemerken. The Hyperactive Kid hieß eine seiner Bands.

Der Schlagzeuger strahlt eine elektrisierende Intensität aus, mit der er sogar die Luft zum Klingen bringt. Wie bei einem Konzert mit der Rolf Kühn Unit im Mai beim X-Jazz Festival in Berlin. Zu Beginn wirbelt der 32-Jährige seine Besen mit vollem Körpereinsatz durch die Luft, sodass die Moleküle zu singen beginnen.

Der erste Schlag aufs Becken ist nicht einmal laut, wirkt in der zuvor von ihm mit Energie aufgeladenen Atmosphäre dennoch wie ein Schuss, der die Aufmerksamkeit des Publikums erzwingt. In der folgenden Stunde wird Lillinger die Musiker vor sich hertreiben, Welle auf Welle schickt er aus seinen Trommeln und umgarnt die Mitspieler zugleich mit einem sichernden Netz aus filigranen Rhythmusfäden. Warum der 87-jährige Rolf Kühn, der mit fast allen Größen des modernen Jazz gespielt hat, sich das antut, sich dieser Energiemaschine in seinem Rücken aussetzt? Ganz einfach: „Der Junge swingt wie verrückt“.

Mit zehn Jahren fängt er an zu trommeln

Swing dürfte keine Größe sein, die in dem kleinen Ort Kuschkow im Spreewald eine große Rolle spielt. Dort wächst Christian Lillinger auf. Der Junge ist anders. Und das Andere reizt ihn. Bloß nicht so werden wie Kuschkow. Da will er raus und die Musik bietet ihm eine neue Weite. Mit zehn Jahren fängt er an zu trommeln. „Ich habe immer etwas gesucht, um überhaupt was zu machen. Dann war es eben das Schlagzeug und ganz schnell eine Musik, die ganz anders war. Ich wollte nichts mit meinen Kollegen zu tun haben. Das war eine Anti-Haltung“, sagt er. Radikaler Free Jazz, der ganz harte Stoff, bietet für kurze Zeit die größtmögliche Distinktion. Doch dann studiert er durch intensives Hören die Klassiker und entdeckt neue Strukturen. Großmeister wie Elvin Jones und Tony Williams beeindrucken ihn, aber auch der Deutsche John Schröder.

Lillinger ist mehr als ein großes Talent. Sein erster Schlagzeuglehrer ist bald geschockt von seinem inzwischen zwölfjährigen Schüler. In der für 3sat produzierten Dokumentation über Lillinger „Gegen den Beat“ sagt er: „Wofür ich Jahre brauchte, das schaffte er in drei Wochen.“

Günter „Baby“ Sommer wird sein Mentor

Lillinger übt wie besessen. Jeden Tag. Seine Drumsticks nimmt er mit ins Bett. In Kuschkow kann ihm keiner mehr etwas beibringen, und so drängt ihn seine Mutter dazu, an einem öffentlichen Vorspiel an der Hochschule Carl Maria von Weber in Dresden teilzunehmen. Da ist er 15. An diesem Tag der offenen Tür nimmt sein Leben die entscheidende Wendung. Als er spielt, geht einem Schlagzeug-Altmeister das Herz auf. Günter „Baby“ Sommer, der seit den frühen sechziger Jahren Jazz-Geschichte geschrieben hat, ist damals Professor in Dresden und erkennt sofort das Ausnahmetalent. „Ich wusste, den will ich bei uns haben“, sagt er.

Nur: Lillinger ist viel zu jung und hat kein Abitur. Sommer beruft sich auf den „Genie-Paragrafen“ und wird zum Mentor des kleinen Trommlers, der mit 16 sein Studium aufnimmt. Keine leichte Aufgabe für den Professor. Lillinger gilt als schwierig, arrogant, weiß alles besser. Die Akademie geht ihm auf die Nerven, die Stadt ist ihm zu eng. „Viele haben gehofft, dass der mal richtig auf die Schnauze fällt“, sagt Sommer.

Mit 18 flieht Lillinger nach Berlin, macht aber noch seinen Abschluss in Dresden – mit der höchsten Wertung, die je ein Student dort erhalten hat. Zu Beginn der nuller Jahre wird er zu einer zentralen Figur in der Entwicklung Berlins zum wichtigsten Ort für neuen Jazz in Europa. In den zahllosen informellen Clubs von Nord-Neukölln finden Musikerinnen und Musiker aus der ganzen Welt ihr Labor für Experimente. Es entsteht ein frischer Jazz, der von esoterischer Improvisation, elektronischen Verbindungen zwischen Club und Klassik, Free Jazz und Traditionspflege alles Mögliche anbietet und plötzlich ein neues, junges Publikum anlockt.

"Dieses Gefallenmüssen, dieses Effizientsein" lehnt er ab

„Ich bin nach Berlin gegangen, weil es hier eine musikalische Eigenständigkeit gibt. Und das trägt jetzt Früchte und kann Vorbild sein für junge Musiker“, sagt Lillinger. Hier entwickele sich die Musik „fern von diesem ganzen Wahnsinn und ohne diese Zwangsjacke, in die man sich entwickeln soll“. Wahnsinn, Zwangsjacke? Was ist damit gemeint? „Der Neoliberalismus. Dieses Anbiedern, dieses Gefallenmüssen, dieses Effizientsein.“ Das alles lehnt Lillinger ab, denn ihm geht es um die reine Kunstform. „Musik erst mal ausformulieren, bevor etwas verlangt wird wie Geld oder Erfolg.“

Als das noch längst nicht hip ist, zieht er ins tiefste Neukölln, in ein Haus, in dem kaum noch jemand wohnt. Hier kann er ungestört üben. Zum Schlafen reicht eine Matratze. Lillinger ist schnell ein gefragter Schlagzeuger, spielt unzählige Gigs mit seiner Band und mit anderen Neuankömmlingen. Mal ist der Club leer, mal randvoll. Hauptsache, man kann spielen. Kollektive finden sich, organisieren eigene Reihen, eigene Festivals, die demonstrieren sollen, was geht.

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Christian Lillinger sagt: „Letzten Endes geht es darum, eine starke Position zu schaffen. Nicht darum, im Moment zu gefallen, sondern über lange Sicht den Leuten etwas zu geben, das wirklich eine Relevanz entwickelt. Und das ist etwas, was einfach Zeit braucht.“ Man gebe dem Publikum eine neue Grammatik auf und wenn es damit nicht umgehen könne, sei das in Ordnung. Vielleicht arbeite es in manchen weiter und beim nächsten Mal entstünde mehr Verständnis. Gefallen, um Platten zu verkaufen, das sei eben genau jener Neoliberalismus, der für ihn keinen Sinn habe.

Immer mehr Menschen scheinen diese Grammatik zu verstehen, sich von einer Musik angezogen zu fühlen, die einem Unbehagen über viele Entwicklungen in der Welt Ausdruck zu geben scheint, weil sie eben nicht auf Anhieb behaglich ins Ohr läuft. Christian Lillinger ist jedenfalls seit Monaten auf Tournee. Und Pianist Joachim Kühn, in dessen Band er ebenfalls trommelt, sagt über den Jungen aus Kuschkow: „In wenigen Jahren wird Christian Lillinger weit über Europa hinaus einer der größten Jazz-Schlagzeuger sein.“

Konzerte: Gropper/Graupe/Lillinger, 8.12., 19 Uhr, Prachtwerk, Ganghoferstr. 2. Mit Ab Baars u. Havard Wiik, 8.12., ca. 21.30 Uhr, Sowieso, Weisestr. 24.

Andreas Müller

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