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Nina Hoss und Bush Moukarzel

© Arno Declair/Schaubühne

Schaubühne Berlin: Fresse oder Phrase

Die Berliner Schaubühne zeigt in Manchester eine Bühnenfassung von Eribons „Rückkehr nach Reims“ mit Nina Hoss in der Hauptrolle

In Manchester hat niemand ein Problem mit dem Wort. Arbeiterklasse? Hier im Norden Englands noch immer stolze Selbstverständlichkeit, keine Vokabel aus der kommunistischen Mottenkiste. Working Class Heroes sieht man auf jeder Baustelle der Stadt, die sich ihr Industriegesicht zunehmend verglast. Und fragt sich unwillkürlich, ob diese aufrechten Zupacker wohl nach Feierabend im Pub gegen die Immigranten hetzen. Ob sie für den Brexit waren. So wie die Mutter von Didier Eribon in Frankreich für den Front National gestimmt hat. Nur ein einziges Mal, behauptet sie, aber das nimmt der Sohn ihr nicht ab. Was ist da schiefgelaufen? Kommunist zu sein, das war früher in seiner Familie so selbstverständlich wie Angelausflug und Armut.

Die Suche nach Antworten beschreibt Eribon in seinem Bestseller „Rückkehr nach Reims“. Der Soziologe, der sich längst neu erfunden hat als erfolgreicher Pariser Intellektueller, stellt sich darin der Scham über seine Herkunft, die ihn viel länger begleitet hat als die Scham über seine Homosexualität. Obschon auch die ausgeprägt war in einem Milieu, wo die Beschimpfung „Schwuchtel“ aus allen Ecken der Sozialbauten hallte. Eribon durchmisst, nach dem Tod des Vaters, die Entfernung zwischen sich und dem Elternhaus. Zwischen der Metropole und der Provinz. Zwischen einer linken Elite und denen, die als „Modernisierungsverlierer“ abgestempelt werden und sich verraten fühlen.

Ostermeier hat sich in Eribons Geschichte wiedererkannt

Thomas Ostermeier bringt „Rückkehr nach Reims“ jetzt auf dem Manchester International Festival (MIF) zur Premiere, mit Nina Hoss in der Hauptrolle, auf Englisch. Die deutsche Version wird im Herbst an der Schaubühne zu sehen sein. Fragt man Ostermeier, weshalb Eribon?, fasst er das Gefühl nach der Lektüre in einen Satz: „Wenigstens bin ich nicht allein.“ Der Theatermacher hat viel gemein mit Eribon. Nicht die Homosexualität, aber das Aufwachsen in Verhältnissen, die von Gewalt, Entfremdung und Zerrüttung geprägt waren. Man merkt der Arbeit die persönliche Beteiligung an. Sie schärft die Auseinandersetzung mit der Theorie.

Der Regisseur ist Sohn eines Unteroffiziers und einer Lebensmittelverkäuferin, die vom Aufstieg zur Textilverkäuferin träumte. Das soziale Umfeld, auch das analysiert Eribon präzise, hegt unerbittlich das Feld dessen ein, was man für möglich hält. In Ostermeiers Familie, nicht nur bildungsfern, sondern bildungsfeindlich, war ausgemacht, dass man nicht aufs Gymnasium ging. Der ältere Bruder gab als Lehrling noch „Kostgeld“ zu Hause ab, er selbst erkämpfte sich einen anderen Weg.

Thomas Ostermeier
Thomas Ostermeier

© Doris Spiekermann-Klaas

Ostermeier erinnert sich noch, wie er auf dem Gymnasium mal Ärger hatte, wegen „Rumtreiberei“. Und wie die Eltern, statt den Sohn vor der Lehrerin zu verteidigen, sofort anboten, ihn von der Schule zu nehmen. Im Unterschied zu Eribon allerdings, „habe ich mich irgendwann für Stolz statt Scham entschieden“. Stolz, einen anderen Hintergrund zu haben als die Altersgenossen, die Anfang der 90er in Neukölln saßen und klagten, sie wüssten gar nicht mehr, wogegen sie sich auflehnen sollten. „Ich wusste immer ganz genau, wogegen“, sagt Ostermeier.

Zu den funkelndsten Szenen in „Rückkehr nach Reims“ zählt die Beschreibung eines saturierten Pariser Kulturbetriebs, in dem Kunstgenuss einzig dem Distinktionsgewinn dient. Wo man ein selbstzufriedenes Lächeln in die Oper trägt und sich mittels exklusiver Codes der eigenen Zugehörigkeit zum Kreis der Eingeweihten versichert. Die Szene taucht auch in Ostermeiers Inszenierung auf, die einen schlagenden Zugriff findet, diese soziologische Schrift ins Theater zu übersetzen.

Das Bühnen-Setting ist ein Studio, in dem Filme synchronisiert werden. Nina Hoss spielt eine Schauspielerin, die das Voice-Over für eine Dokumentation spricht – zunächst ausschließlich mit originalem Eribon-Text. Diesen Film, der auf einer großen Leinwand zu sehen ist, hat Ostermeier zusammen mit Sébastien Dupouey gedreht. Eribon begibt sich darin tatsächlich zurück nach Reims. Sitzt mit der Mutter am Küchentisch und wühlt sich durch Kartons mit alten Fotografien.

Eribons Mutter wollte sofort mitmachen

Zuerst hat er sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, „c’est pas possible!“. Die Mutter dagegen war sofort einverstanden. Obwohl sie das Buch ihres Sohnes schrecklich findet. Sie kann nicht verstehen, wieso er schreibt, dass sie arm waren zu Hause. Es hätte den Kindern doch an nichts gemangelt. Aber die Verführungskraft der Kamera machte alles vergessen. Wenn man sie im Film sieht, mit ihrem von lebenslanger Schufterei gezeichneten Körper, leuchtet sofort ein, was Ostermeier mit einem „Problem der Repräsentation“ meint: Außerhalb der Filme von Ken Loach und gerade bei uns kommt eine Arbeiterklasse ja hauptsächlich als Füllpersonal der Nachmittagstalkshows vor, „wo sie über Kindesmissbrauch und Alkoholismus reden darf“.

In einer berührenden Szene beschreibt Eribon, wie stolz sein Vater war, als er den Sohn einmal in einer Diskussionsrunde im Fernsehen sah. In einer für ihn unerreichbaren Sphäre. Selbst dass Didier dort über sein Buch „Reflexions sur la question gay“ redete, die Überlegungen zur schwulen Frage, was ja im Viertel für Spott sorgen musste, wurde mit einem Gewaltanflug von Vatergefühlen beiseite geschoben: „Wenn mir einer blöd kommt, hau ich ihm auf die Fresse.“ Ein Originalausschnitt der fraglichen Fernsehsendung von 1982 kommt auch in Ostermeiers Film vor.

Die Arbeiterklasse wird nicht idealisiert

Bei der ersten Preview vor der Premiere, im Kulturzentrum „Home“ in Manchester, beweist sich die kristallene Schärfe des Eribon-Textes, den Nina Hoss in ihrer Rolle der Schauspielerin großartig konzentriert und mit höchstem Feingefühl für die Reibungsflächen durchmisst. Auch für sie ist die „Rückkehr nach Reims“ ein Herzensprojekt, sie hat dazu grade dem „Guardian“ ein großes Interview gegeben. Hat erzählt, wie sie während des Trump-Wahlkampfes und -sieges in den USA „Homeland“ gedreht und die fassungslosen Linken erlebt hat, die plötzlich die Welt nicht mehr verstanden. Eribon bietet da Nachhilfe.

Er idealisiert die Arbeiterklasse nicht, kein bisschen. Als angestammter Trotzkist trägt er auch keine Enttäuschung mehr über das unrevolutionierte Bewusstsein der Proletarier mit sich. Vor allem beschreibt er hellsichtig, wie eine Linke sich vom Neoliberalismus hat infiltrieren lassen. Wie Begriffe wie „Ausbeutung“ und „Unterdrückung“ verschwanden und der Rede vom „sozialen Frieden“ Platz machten. Wie Abbau als Reform verkauft wurde. Und er fragt auch, ob da ein Krieg im Gange ist gegen die armen Klassen, mit Schulen als Schlachtfeldern, auf denen Ausschluss und Selbstausschluss zusammenkommen. Führt das geradewegs in die Verschwörungstheorie? Das ist der Moment, in dem bei Ostermeier der Film abbricht und sich eine elektrisierende Diskussion zwischen Hoss und dem Darsteller ihres Synchron- Regisseurs, Bush Moukarzel, entspinnt.

Am Ende erzählt Nina Hoss von ihrem Vater

Man kann, sagt Ostermeier, an Eribon das eigene linke Bewusstsein schärfen. Begreifen, dass es nirgendwohin führt, die erstarkten Rechtswähler als rassistische und homophobe Idioten abzutun. Sondern dass es Brücken braucht über die Kluft zwischen einer intellektuellen Elite und den sogenannten Abgehängten. Was Ostermeier besonders im Ohr klingt, ist Eribons Fazit. Dass nämlich sein Vater und er auf je eigene Art Opfer der Verhältnisse geworden sind, aus denen sie stammen. „Das heißt“, sagt Ostermeier auch mit Blick auf sich selbst, „dieser Weg des Intellektuellen ist ebenfalls eine Reaktion auf soziale Gewalt. Und keine Befreiung.“

Am Schluss seiner Inszenierung steht ein idealistischer Entwurf. Hoss erzählt von ihrem Vater, früher Kommunist, später Mitbegründer der Grünen und noch später Ehrenhäuptling eines indigenen Stammes im Regenwald. Er machte sich für die Rechte jener Arbeiter stark, die man Gastarbeiter nannte und von keiner Gewerkschaft repräsentiert waren. Auch das ist eine Utopie, die in Frankreich in den 70ern schon mal verwirklicht war: dass sich französische und ausländische Arbeiter im Kampf zusammenschließen und den Rassismus überwinden – auch in den kommunistischen Parteien.

Eine Engels-Statue kehrt nach Manchester zurück

In Manchester, wo das „Kommunistische Manifest“ geschrieben wurde, öffnet „Rückkehr nach Reims“ natürlich einen ganz eigenen Resonanzraum. Soziale Spaltungen sind offensichtlich in dieser Stadt, wo der teuerste Fußballspieler der Welt zuhause ist und aus jeder Ecke Obdachlosigkeit schreit. Aber Manchester, das sagt Festivalchef John McGrath, geht die Probleme offensiv an. Zur Eröffnung hat er „What is the City but the People?“ gezeigt. Jeremy Deller hat einen Laufsteg über den Platz Piccadilly Gardens gebaut, der als Brennpunkt der Obdachlosigkeit gilt. 150 ausgewählte Bürgerinnen und Bürger liefen drüber, ehemalige Wohnungslose genauso wie Taxifahrer, die nach dem Anschlag im Mai geholfen haben, die Opfer ins Krankenhaus zu bringen.

Das Festival-Finale wiederum beschließt die Rückkehr einer Statue von Friedrich Engels, deren Reise der Künstler Phil Collins unter dem Titel „Ceremony“ organisiert. Die Baustelle ist schon bereit. Bleibt abzuwarten, ob der Mann in Manchester als Working Class Hero begrüßt wird. Oder nur als Geist der Geschichte.

„Rückkehr nach Reims“: bis 14.7. auf dem Manchester International Festival, www.mif.co.uk, Berlin-Premiere am 24.9.

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