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Auf Augenhöhe. Rodins Figurengruppe „Die Bürger von Calais“ (1889) in einem Gipsabguss von 2005. Eine zur Zeit der Jahrhundertwende radikale Skulptur, da sie keine Helden auf ein Piedestal stellt und rundum betrachtet werden kann.

© collections du musee Rodin, Pari

Rodin-Jubiläumsausstellung in Paris: Runter vom Sockel

Auguste Rodin ist ein Titan, eine Jahrhundertgestalt der Bildhauerkunst. Der Pariser Grand Palais zeigt anlässlich seines 100. Todestages eine opulente Werksammlung des Meisters.

Auguste Rodin ist ein Titan, eine Überlebensgröße der Bildhauerkunst. Das ist der einhellige Tenor aller Bücher, Artikel und Ausstellungen über den Meister, dessen 100. Todestag im November bereits jetzt begangen wird. Das ist aber auch das Problem einer jeden Feier zum Ruhme Rodins. „Sie sind es, der in unserem Jahrhundert die glorreichste, die vollendetste Verkörperung der plastischen Kunst darstellt“, huldigte ihm der einflussreiche Kritiker Octave Mirbeau, bald nachdem sich Rodin 1894 im Pariser Vorort Meudon eingerichtet hatte, der zum Wallfahrtsort der Kunstbegeisterten wie auch zahlloser angehender Künstler wurde.

In diesem Tonfall nähert sich dem Jahrhundertkünstler nun auch die Jahrhundertausstellung, die im Grand Palais als dem räumlich größten Pariser Ausstellungsgebäude eingerichtet ist. Es geht nicht anders; jedenfalls nicht in Paris, wo das eigentliche Rodin-Museum im Hôtel Biron selbst viel zu überlaufen ist, um eine solche Feierveranstaltung aufzunehmen. Der Künstler hatte dieses in den letzten Lebensjahren zusätzlich genutzte Atelierhaus dem Staat als Museum geschenkt. Stattdessen sind nun all die Plastiken und Gipse, die Rodin behalten hatte und die den Kernbestand des Rodin-Museums ausmachen, einige Kilometer Seine-aufwärts transportiert worden, um ausgerechnet im Grand Palais, diesem anti-modernen Prachtbau für die Weltausstellung von 1900, die Modernität des Künstlers zu bezeugen. Andererseits ist genau das die richtige Hommage, erlebte Rodin doch mit der Ausstellung von sage und schreibe 171 Skulpturen in einem eigenen Pavillon bei ebendieser Weltausstellung seine weltweite Anerkennung.

Die Aufstellung ist nicht ideal geworden

Die Ausstellungsflächen, die die Vereinigung der nationalen Museen seit jeher im Grand Palais nutzen, berühren die eigentliche Glas-Eisen-Halle nicht, sie liegen straßenseitig an deren Flanke. Ein reizvolles Gedankenspiel ist es trotzdem, sich die nach monumentaler Größe strebenden öffentlichen Plastiken Rodins in dem gigantischen, einer damaligen Bahnhofshalle nicht unähnlichen Hauptsaal vorzustellen. Immerhin wurden die Seitenfenster der Galeries nationales geöffnet, endlich einmal. Für Skulpturen ist Seitenlicht ohnehin das Richtige.

Ideal ist die Aufstellung dadurch nicht geworden. Für Rodins „Höllentor“, dieses Riesenwerk mit seinen rund 300 Einzelfiguren, reicht die Raumhöhe gerade eben aus, allerdings nur im erstmals geöffneten, historischen Treppenhaus. Das „Höllentor“ sollte ironischerweise bei der Auftragsvergabe im Jahr 1880 nichts weiter werden als eine Bronzetür für das neu erbaute Museum der dekorativen Künste. Dann aber wurde es zum Lebensthema des 1840 geborenen Künstlers, 37 Jahre arbeitete er daran. Erstmals in Bronze gegossen wurde es erst ein knappes Jahrzehnt nach dem Tod des Künstlers. Seine ursprünglich vorgesehene Aufstellung erfuhr es nie.

Anders als die – vielleicht noch berühmteren – „Bürger von Calais“, die parallel zwischen 1885 und 1895 als Auftragsarbeit der Stadt Calais entstanden, wenn auch von ihr nicht sonderlich geliebt. Von dieser Figurengruppe wurden im Lauf der Jahrzehnte zwölf Güsse hergestellt. Sie sind rund um den Globus verteilt, von London bis Tokio, allein in den USA stehen vier Exemplare – alle vor oder in Museen, was gerade nicht Rodins Intention war und auch nicht die seiner Auftraggeber.

Was Rodin von anderen Bildhauern seiner Zeit unterschied

Die „Bürger von Calais“ sind vielleicht das modernste Werk Rodins, insofern sie eine Gruppe unterschiedlicher Individuen darstellen, eben die Bürger. Das Werk veranschaulicht eine historische Begebenheit des 14. Jahrhunderts – die Übergabe der Stadt an den übermächtigen Feind. Die Bürger stehen in Augenhöhe auf einem flachen Sockel und nicht hoch auf einem Piedestal wie bei einem Huldigungsdenkmal. Man muss die Gruppe umrunden, sie ist „allansichtig“, kennt kein Vorn und Hinten. Das war radikal in einer Zeit, in der es von Denkmälern nur so wimmelte, für Helden, Staatsmänner und Dichter. Sogar in diesem Genre schuf Rodin mit seinem „Denker“ etwas Radikales, einen nach vorne gebeugten nackten Mann, der seinen Kopf weniger auf die Hand stützt, als dass er in sie zu beißen scheint. Dies ist kein genialer, sondern ein zerquälter Denker, ein Zweifler und Grübler.

All das ist noch bis Ende Juli im Grand Palais zu sehen. Anhand der Gipse aus dem Künstlermuseum lässt sich hier vor allem erkunden, was Rodin von den Denkmalsproduzenten seiner Zeit grundlegend unterscheidet: die Materialität und das Unvollendete. Rodins Skulpturen wachsen aus dem Material heraus, sie machen den Prozess ihrer Formung zum eigentlichen Thema der Darstellung. Und sie sind oftmals unvollendet oder zeigen eine Figur lediglich partiell: eine Hand nur oder einen Kopf, der aber keine vollständige Büste ist. Diese Sichtbarmachung des Schaffensprozesses muss um 1900, da die École des Beaux-Arts tonangebend glatten Perfektionismus lehrte, zugleich verstört wie begeistert haben.

Sein Einfluss auf die Nachwelt

Was die schon zu Lebzeiten des Künstlers übermächtige Verehrung dem Meister sonst noch zuschrieb, geht über das Vermögen selbst eines Genies hinaus. Davon ist man heutzutage weit entfernt – sollte man meinen. Doch die Pariser Ausstellung verfolgt diesen Ansatz erneut, indem sie alles einbezieht, was an Skulptur nach Rodin kam, und es wiederum auf ihn zurückführt, von Wilhelm Lehmbruck bis Tony Cragg. Das ist nicht falsch, insofern kein Bildhauer je an Rodin vorbeikam, solange Skulptur das Ziel war. Das ist heute – Stichwort Installation – nicht mehr unbedingt der Fall. Andererseits reduziert eine solche Perspektive Rodin auf einen bloßen Stichwortgeber; so, wenn „Expressionismus“ als Ausstellungskapitel aufgerufen wird und roh behauene Holzskulpturen von Baselitz oder fiebrige Zeichnungen von de Kooning neben Rodins Arbeiten gezeigt werden.

Gewiss, eine solch opulente Zusammenstellung der Skulpturen Rodins wird man auf Jahrzehnte hinaus nicht sehen können. Das Musée Rodin ist, wie gesagt, zu klein, um die Plastiken in gebotener Weiträumigkeit vorzuführen. Doch ist nicht zu leugnen, dass die Bildhauerkunst an Bedeutung eingebüßt hat, dass sie weitgehend historisch geworden ist.

Historisch ist längst auch die Ausstrahlung Rodins. Heute führe kein Rilke mehr nach Paris, um Sekretär des Meisters zu werden. „Der Mensch und sein Genius“ lautet der Titel der Ausstellung, die die Alte Nationalgalerie in Berlin Auguste Rodin sowie Rilke und Hofmannsthal im Spätherbst widmet. Darauf darf man nun erst recht gespannt sein.

Paris, Grand Palais, bis 31. Juli. Katalog, 392 S., 49 €. Mehr unter www.rodin100.org

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