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Der Schriftsteller und Journalist Roberto Saviano kämpft für die Meinungsfreiheit und gegen die Korruption.

© Mike Wolff

Robert Saviano im Gespräch: „Deutschland ist fast ein Paradies für Organisiertes Verbrechen“

Der italienische Journalist und Mafiakritiker Roberto Saviano über Renzi und Merkel, die Zukunft Europas und Italiens.

Wir haben uns das erste Mal 2008, als die Camorra Sie gerade wegen Ihres Buchs „Gomorrha“ mit dem Tod bedroht hatte, unter konspirativen Umständen in Neapel getroffen. Die Drohung besteht noch immer. Heute sitzen wir ohne Bodyguards in einem Luxushotel in Berlin-Mitte, wäre es da zu hart zu sagen, Sie sind inzwischen reich, erfolgreich, aber nicht glücklich?

Ich bin stolz, dass ich von meiner Arbeit leben kann. Reich bin ich deswegen nicht, aber ich kann meine Recherchen und meine Anwälte bezahlen. Auch am eigenen Unglück muss jeder arbeiten, und ich stelle mir immer mehr die philosophische Frage: Was bedeutet eigentlich Glück? Schwer zu sagen, oder?

Sie kommen gerade aus New York. Fühlen Sie sich dort sicherer, freier?

Ich versuche, Orte zu finden, wo ich mich zurückziehen kann. New York gibt mir mehr Anonymität, zugleich fühlt man sich durch viele Menschen dort auch beschützt, das hat schon Salman Rushdie erfahren. Er hatte mir New York empfohlen. Ich versuche überall, weiter mit dem Druck umzugehen und kämpfe täglich darum, mir mehr Freiheit zurückzugewinnen. Das Leben ist ein Kampf.

Den M100 Media Award, einen Journalistenpreis, erhielt 2015 „Charlie Hebdo“. Sie sagen, Sie seien kein Journalist, sondern ein Schriftsteller für Non-Fiction.

Für die einen bin ich Journalist, für die anderen Schriftsteller. Über die Bastardmischung bin ich ganz froh, denn Non-Fiction-Romane sind eine Möglichkeit, der Wahrheit tiefer auf den Grund zu gehen. Es ist, wie mit einem Eispickel auf eine gefrorene Fläche zu schlagen, um zu sehen, was drunter ist und ob der Boden trägt.

Franz Kafka sagte, die Literatur soll die Axt im Eis unserer Seele sein.

Oh ja, ein sehr schönes Zitat. Es gibt diese angelsächsische Tradition des Fakten-Checks. Daraus kann auch eine Schein-Objektivität werden. Ein Gegenbeispiel sind die großen erzählerischen Reportagen von Truman Capote oder Ryszard Kapuscinski. Heute werden wir durch das Internet mit angeblichen Fakten und spontanen Meinungen überflutet, und selbst die seriösen Medien leiden an dem Mangel an Zeit, das alles zu prüfen und zu bewerten. Recherche und Fakten bleiben die Basis, aber „Fakten“ sind manipulierbar. Denken Sie, was man heute mit digitalem Material anstellen kann. Tiefer reflektierende Non-Fiction hat für mich deshalb mehr mit einem Gemälde zu tun als mit einer Fotografie. Das Gemälde hat seine subjektive Wahrheit.

Der Potsdamer Preis gilt der Verteidigung der Medienfreiheit. Diese ist heute nicht nur durch Diktaturen bedroht, sondern auch innerhalb der Demokratie, durch radikalen Populismus, der „Lügenpresse!“ ruft.

Auch diese Strömungen nutzen das Internet und profitieren von dem Mix aus Information und Konfusion. Ich kann mit meiner Arbeit nur versuchen, dem Leser zu sagen: Nimm dir die Zeit zu verstehen, nachzudenken, selber zu urteilen.

Einer Ihrer letzten Artikel galt dem Erdbeben in Mittelitalien. Sehen Sie eine Chance, den Wiederaufbau im Unterschied zu früheren Katastrophen besser zu gestalten?

Die Folgen der Erdbeben sind jedes Mal auch ein Spiegel Italiens. Einerseits das spontane Engagement der Bevölkerung zu helfen, zu spenden, zu retten. Andererseits die Schwäche des Sozialwesens: die Korruption, die Mafia, die politische Unfähigkeit, nachhaltig Konsequenzen zu ziehen. Die Italiener sind da zerrissen zwischen kreativem Enthusiasmus und lähmendem Fatalismus. Wieder sind die kriminell fehlerhaft gebauten neuen Häuser zusammengebrochen und die alten historischen Bauten haben dem Beben viel besser standgehalten. Das ist auch ein Symbol für die Zerbrechlichkeit des Landes.

Könnte die EU eine Änderung bewirken?

Die EU müsste für ihre finanziellen Hilfen Regeln setzen, sie hat jedoch kaum Mechanismen, die Einhaltung zu kontrollieren. Jede Hilfe war bisher ein giftiges Geschenk, weil bereitgestellte Gelder entweder mangels konkretisierter Projekte gar nicht abgerufen wurden oder in mafiosen Strukturen versickert sind.

Wird es im Herbst in Italien ein politisches Erbeben geben, falls Ministerpräsident Matteo Renzi beim bevorstehenden Referendum zur Verfassungsreform scheitert und als letzter Hoffnungsträger zurücktreten muss?

Renzis größter Fehler ist, das Referendum auch zur persönlichen Vertrauensfrage zu machen. Das erinnert an David Camerons Taktik und Scheitern beim Brexit. Das andere ist die europäische Dimension. Nicht nur Renzi, auch Präsident Hollande in Frankreich beschönigt gegenüber der Bevölkerung die wahre Lage in seinem Land. Alle reden von Erfolgen, von Besserung der Lage, das behauptet auch Bundeskanzlerin Merkel als Rechtfertigung ihrer europäischen Sparpolitik. Das ist mit ein Thema meiner Potsdamer Rede zum M100-Preis, bei der Frau Merkel dabei ist. Tatsächlich ist die Lage in den südeuropäischen Ländern tragisch.

Selbst das vergleichsweise reiche Italien hat fast 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, eine halbe Generation ohne Perspektive.

Ja, es gibt die Lüge über den Zustand Europas, auf vielen Gebieten, auch aktuell in der Flüchtlingspolitik. Wir müssten Europa endlich wieder als ein gemeinsames Projekt jenseits der reinen Ökonomie und des Finanzsektors denken.

Bräuchte Europa für einen grundlegenden Wandel dann nicht eine Art soziale und politische Revolution?

Absolut. Aber ohne gemeinsame Sprache, Verfassung und demokratische Regierung geht das nicht. Wir brauchen anstelle von immer mehr in sich scheiternden Nationalismen die Vereinigten Staaten von Europa – in dem Sinne, wie sie Altiero Spinelli, der als Antifaschist von Mussolini auf die Insel Ventotene verbannt wurde, zusammen mit zwei Mitgefangenen 1941 im „Manifest von Ventotene“ vorausgedacht hat.

Renzi hatte Hollande und Merkel deshalb zum jüngsten Dreiergipfel im Golf von Neapel mit auf die Insel Ventotene eingeladen.

Ja, aber das war nur Symbolik. Es gibt nicht einmal bei der Steuer- und Finanzpolitik, die immer im Vordergrund steht, eine gemeinsame Strategie gegen Betrug und Verschwendung. Frankreich hat Luxemburg, Deutschland hat Liechtenstein, Spanien Andorra und Italien San Marino als Steueroasen. Und Deutschland ist fast ein Paradies für das Organisierte Verbrechen, weil man die Mafia noch immer nur für ein Phänomen der Italiener, Russen oder Südamerikaner hält. Deutschlands Gesetze gegen Geldwäsche sind bisher nicht viel besser als die in Nordkorea oder Afghanistan! Das sollte auch Frau Merkel wissen. Und die internationale Hauptstadt der Geldwäsche ist nicht Panama City, sondern London.

Wer, glauben Sie, gewinnt die amerikanische Präsidentschaftswahl?

Bislang dachte ich, Hillary Clinton. Aber gerade den ärmeren Bürgern erscheint die Sprache der politischen Korrektheit inzwischen als hohl. Es gab zu viele nicht eingehaltene Versprechungen, und das nützt Trump mit seiner brutalen Rhetorik aus. Es bleibt darum spannend.

Und was passiert in Italien, falls Renzi stürzt?

Hm. (Lächelt) Ich sehe nicht so gerne voraus in die Apokalypse.

Das Gespräch führte Peter von Becker.

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