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© Coler

Rezension: Damenwahl in China

Zum Frauentag: Besuch beim letzten Matriarchat. Bei den Mosuo in China geben die Mütter den Ton an, Väter spielen so gut wie keine Rolle.

Von Caroline Fetscher

Morgens um sechs auf der Hauptstraße von Luoshui: „Es herrscht ein buntes Treiben. Die Männer verlassen eilig das Gemach der Geliebten, um dorthin zurückzukehren, wo sie hingehören: zu ihren Müttern.“ Staunend erlebt der westliche Beobachter, wie bei den Mosuo die patriarchale Welt Kopf steht. Niemand heiratet, die Erwachsenen lieben, wen immer sie gerade mögen. Mütter geben den Ton an, Väter spielen so gut wie keine Rolle, Töchter erscheinen kostbarer als Söhne und erben den Besitz, Söhne wie Töchter tragen den Nachnamen der Mutter.

Die Mosuo leben im Südwesten Chinas auf dem Grenzgebiet der Provinzen Yunnan und Sichuan im Hochgebirge. Die meisten der etwa 35 000 Frauen, Männer und Kinder siedeln am Ufer des LuguSees, einem der größten asiatischen Gebirgsgewässer. Sie fischen, handarbeiten, treiben Landwirtschaft, manche fahren Auto. Kinder, besonders Töchter, erhalten eine gute Schulbildung. Reichtum oder Prestige interessiert nicht sonderlich. Gelegentlich stoßen Ethnologen oder Touristen auf die Mosuo, wie jetzt auch der argentinische Arzt und Journalist Ricardo Coler, geboren 1956, der seinen Bericht „Das Paradies ist weiblich“ nennt. Bei den Mosuo sei man, schwärmt er, „im Reich der Frauen“. Wie paradiesisch es wirklich zugeht, lässt sich nicht genau ermessen, Coler schreibt auch nicht als Wissenschaftler, sondern unterhaltsam, erzählerisch. Eins wird allerdings klar: Die Mosuo sind sehr relaxed.

Sie selber glauben, das kommt daher, dass keiner von ihnen heiratet; Sex und Liebe sind jedoch nicht verpönt. Das Verwandtschaftssystem folgt der Mutterlinie (matrilinear) und orientiert sich am Wohnort der Mutter (matrilokal). Grollen, Brüllen, Schlagen kennen sie nicht. „Aggressives Verhalten innerhalb und außerhalb der Familie“, bemerkt Coler, „wird als entehrend empfunden. Gewalt in all ihren Ausprägungen stößt auf Ablehnung.“

Da Liebe und Sexualität meist nicht von lebenslanger Dauer sind, sagen sie bei den Mosuo, sei es schöner, klüger und gesünder, sich auf „Besuchsehen“ einzulassen. Den Raum dazu bietet das Blumenzimmer der Dame, die sich bei Flirt und Tanz einen Mann wählt, der zustimmt – für eine Nacht, ein paar Wochen oder auch Jahre. Für Hippiefantasien ist das Ganze jedoch zu rituell – der Auserwählte stellt sich der Matriarchin vor, die ihm den Umgang mit der Tochter, Schwester oder Nichte gewährt. Große Enttäuschung für Radikalfeministinnen: Küche und Haushalt sind Frauensache. Sie seien darin „schneller und besser“, lachen die Frauen, die wiederum bei großen Anschaffungen die Männer entscheiden lassen.

Ihren Lohn liefern die Männer, wenn sie überhaupt arbeiten, bei der Matriarchin ab. Viele spielen den lieben langen Tag Karten, plaudern und albern zärtlich mit den Kindern, ob es nun ihre eigenen sind oder nicht. Maos Ideologie passten die Mosuo nicht, man versuchte, sie zu Ehen zu zwingen, aber die Umerziehung misslang. Heute genießen sie einen gewissen Minderheitenschutz und Privilegien wie die Erlaubnis, bis zu drei Kinder zu bekommen. Die Lehre von Colers Buch: Jeder Handgriff, jeder Buchstabe, jede soziale Regel ist eine Erfindung der jeweiligen Gesellschaft. Alles kann auch ganz anders sein. Caroline Fetscher

Ricardo Coler: Das Paradies ist weiblich. Eine faszinierende Reise ins Matriarchat. Kiepenheuer Aufbau Verlagsgruppe, Berlin, 2009. 220 Seiten, Farbfotos, 19,95 €

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