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Zurückhaltend und poetisch. Die Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger, 68.

© imago/Horst Galuschka

Prosaminiaturen von Gertrud Leutenegger: Träumerin mit offenen Augen

Kleine Kunststücke der Verdichtung: Der Band „Das Klavier auf dem Schillerstein“ vereint Prosaminiaturen von Gertrud Leutenegger.

Vor drei Jahren landete Gertrud Leutenegger mit ihrem Roman „Panischer Frühling“ auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Eine Überraschung, denn die 1948 in Schwyz geborene Autorin veröffentlicht zwar seit den siebziger Jahren kontinuierlich – aber meist unbemerkt von einem größeren Publikum. Fast könnte man die Buchpreis-Nominierung ein schönes Missverständnis nennen, denn in der Regel reüssieren dort Familienromane oder Bücher, die von der großen deutschen Geschichte handeln oder der prekären Gegenwart. Gertrud Leuteneggers Prosa hingegen ist gefeit vor solch plakativen Zuschreibungen; zurückhaltend und poetisch ist sie, auf leserfreundliche Effekte weniger bedacht als auf eine sprachliche Langzeitwirkung.

Nun ist ein neues Buch – oder vielleicht eher: Büchlein – der Schweizer Autorin anzuzeigen und zu preisen: „Das Klavier auf dem Schillerstein“ erscheint in dem für seine prächtigen Ausgaben und Ausgrabungen bekannten Schweizer Nimbus Verlag, nicht in Leuteneggers Hausverlag Suhrkamp. Das liegt vermutlich daran, dass in dem schmalen Band Nebentexte der Autorin versammelt sind. Allerdings klingt das bescheidener, als es ist: Diese Prosaminiaturen, die zum großen Teil bereits im Feuilleton der „Neuen Zürcher Zeitung“ gedruckt worden sind, führen ebenso ins Zentrum der Arbeit von Gertrud Leutenegger wie etwa die kurzen Prosastücke Robert Walsers ins Zentrum des Werks von Walser führen. Sie enthalten kondensiert den Zauber, der auch andere ihrer Bücher auszeichnet. Und sie sind, jeder Text für sich genommen, kleine Kunststücke der Verdichtung. Erzählung, Essay, Erinnerungssplitter – dazwischen bewegt sich die Autorin behände hin und her, und es wäre ein Fehler, wollte man die Texte auf eine Form festlegen.

Gletschersterben und Literaturgeschichte

So kann die Kindheitsreminiszenz an eine Zwiebackschachtel, auf der das Mädchen die medaillonförmige Abbildung fasziniert, übergehen in die Erinnerung an frühe realitätserweiternde Kinoerlebnisse im Heimatort Schwyz. Ein Augenarztbesuch wiederum kippt ins Groteske, es kommt zu einer so unerwarteten wie unwahrscheinlichen Begegnung mit der Marquise von O. und zur Beobachtung, dass Heinrich von Kleist seinen Figuren gerne die Gabe des rückhaltlosen Versinkens ins Unbewusste gewährt habe.

Das Unbewusste mischt sich auch immer wieder in die konkreten Beobachtungen, die bei Leutenegger etwas Augenöffnendes haben. Eine Reise führt sie in die Alpen, wo „der Berge wachsend Eis“, das Albrecht von Haller 1729 besungen hat, heute schrumpft. Die Verwundbarkeit der Natur und das Sterben der Gletscher werden von Leutenegger eindringlich geschildert, und zugleich hat der Text noch mindestens eine weitere, literaturhistorische Ebene: Fast beiläufig schleicht sich eine Episode aus dem Leben des Dichters Arthur Rimbaud in die Betrachtungen.

Aus dem Konkreten schlüpft eine abstrakte Wahrheit

Gertrud Leutenegger erzählt von Erfahrungen, von Begegnungen, von Lektüren. Die Schriftsteller Gerhard Maier oder Catherine Colomb treten darin auf, Schreib-Weggefährten und Schreib-Ermutiger der Autorin. Leutenegger gleitet in ihrer Prosa vom Alltag hinüber in die Fiktion, von der Fiktion in die Reflexion. Ihre Weltwahrnehmung ist geprägt von einer frühen Erkenntnis: dass in allen Erscheinungen immer ein Rest von „Disparatem, Unverzehrbarem, Unzugänglichem“ bleibe. Diesen Rest zu erkunden, das unternimmt sie in den nun vorliegenden Miniaturen. Und sie tut das in einer Sprache, die für die kleinsten Dinge und Gefühlsregungen sensibel ist. Manchmal schlüpft aus dem Konkreten auch eine abstraktere Wahrheit, eine existenzielle und poetologische Erkenntnis: „Nichts Äußeres mehr“, schreibt sie einmal, „weder Treppenhaus noch Garten, drückt meine Lebensart aus. Alles wird weniger. Aber die geliebten Menschen sind da, ein Seezipfel, der aufleuchtet, die Blutbuche vor den Fenstern, der Herzschlag der Katze unter dem schwarzen Fell. Wie fordert uns das Leben heraus, immer leichter zu werden. Im Innern nimmt das einst Sichtbare Zuflucht, erwacht zu fernem Klang, steht als ungreifbare Architektur wieder auf, wird Rhythmus, Glanz.“

Im titelgebenden Text „Das Klavier auf dem Schillerstein“ singt Leutenegger dem Tessiner Schriftsteller Giovanni Orelli ein Loblied – sie nennt ihn bewundernd einen „Träumer mit offenen Augen“. Das Lob möchte man gerne weiterreichen: Gertrud Leutenegger selbst ist eine Träumerin mit offenen Augen. Sie durchstreift die Welt und die Welten der Erinnerung mit schwebendem und staunendem Blick, als würde alles, ein wenig nur von der Wirklichkeit verrückt, noch einmal neu gesehen werden können.

Gertrud Leutenegger: Das Klavier auf dem Schillerstein. Nimbus Verlag, Wädenswil 2017. 96 Seiten, 19,80 €.

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