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Musikbotschafter. Die Geigerin Julia Gröning und der Pianist Lion Hinrichs.

© Susanne Gröning

Projekt „Live Music Now“: Klassik im Pflegeheim

Bei dem Projekt „Live Music Now“ bringen junge Musiker Klassik zu jenen, die nicht ins Konzert kommen können. Eine Berliner Klangreise.

Die Tränen fließen schon nach wenigen Takten. Kaum dass Julia Gröning auf ihrer Geige das sehnsuchtsvolle Thema von Jules Massenets „Méditation“ angestimmt hat. Zwei Dutzend Bewohnerinnen und Bewohner eines Potsdamer Pflegeheims drängen sich in dem engen Aufenthaltsraum. Die alten Damen sind deutlich in der Überzahl, mehrere sitzen im Rollstuhl. Einer der Herren trägt seine Ausgehuniform aus Berufszeiten, mit drei goldenen Streifen am Arm.

Obwohl Lion Hinrichs nur ein schlichtes E-Piano zur Verfügung steht, lässt er die Akkorde weich wallen, umhüllt sensibel die Melodielinie seiner Instrumentalpartnerin. Und sorgt damit für feuchte Augen. Weil durch die Töne Gefühle hochsteigen, aus den tiefsten Tiefen der Erinnerung, weil Saiten in der Seele angeschlagen werden, die womöglich schon sehr lange nicht mehr geklungen haben.

Bei den Konzerten von „Live Music Now“ wird die Macht der Musik spürbar. Auf eine ganz unmittelbare, unverstellte Weise. die sich sehr von der Art unterscheidet, wie Werke der Klassik normalerweise gehört werden. Viele Menschen schätzen das angenehme Gefühl, sich mit Gleichgesinnten in einem Raum wie der Philharmonie zu versammeln. Weil sie dort aus dem Dauerrauschen ihres aktiven Lebens heraustreten, um konzentriert-kollektiv einem Orchester zu lauschen, aufmerksam, mitdenkend. Bei „Live Music Now“ dagegen bricht das Spiel der Instrumente unvermittelt in die Alltagsrealität ein.

Das Projekt startete 1977 in London

Darin liegt die Idee der von Yehudi Menuhin gegründeten Organisation: Sie entsendet Studierende von Musikhochschulen zu Menschen, die selber nicht zur Klassik kommen können. In Seniorenheime, Krankenhäuser, Schulen für Behinderte, Gefängnisse, psychiatrische Kliniken, Flüchtlingsunterkünfte. Für Hausmusik im edelsten Sinn des Wortes, die den Zuhörern oft neuen Lebensmut schenkt.

Menuhin, der 1916 geborene Geiger und Humanist, hatte in jungen Jahren sehr viel Elend und Grauen erlebt und entwickelte eine Vision: Musik als Trost für alle, die mühselig und beladen sind, dargebracht von jenen, die am heißesten dafür brennen, von jungen Profis. Der Virtuose selber hatte in den vierziger Jahren in Lazaretten und vor Kriegsgefangenen konzertiert – und die Wirkung dessen gespürt, was man heute Musiktherapie nennt.

Das Projekt „Live Music Now“ startete Menuhin 1977 in London. Bald kamen europaweit Ableger hinzu, vor 22 Jahren auch in Berlin. Lilly Heiliger nahm die Gründung in die Hand, sie ist bis heute aktiv dabei. Der Verein wird ausschließlich durch ehrenamtliche Arbeit getragen, damit jeder eingeworbene Spenden-Euro direkt an die Künstler weitergereicht werden kann. Auch das gehört zu den Prinzipien von „Live Music Now“: dass die Musikerinnen und Musiker ein angemessenes Honorar erhalten. Immer wieder gelingt es den LMN-Machern zudem, Stars für Benefizkonzerte zu gewinnen. An diesem Sonntag wird Katja Riemann im Konzerthaus Texte von Autoren lesen, die nach Deutschland geflüchtet sind, musikalisch begleitet von der Pianistin Marianna Shirinyan.

Ein hoher Nebengeräuschpegel im Pflegeheim

Julia Gröning und Lion Hinrichs sind schon lange dabei, die Geigerin mit südkoreanischen Wurzeln seit ihrem 14. Lebensjahr. Der in Hamburg aufgewachsene Pianist war zunächst in seiner Heimatstadt für LMN aktiv und wurde nach seinem Wechsel an die Universität der Künste vom Berliner Verein in sein Programm übernommen. Nach Massenets „Méditation“ spielen die beiden im Potsdamer Pflegeheim noch Werke von Mozart, Bach und Händel, Elgar, Debussy und Gounod. Lauter Hits wie „Air“ oder „Ave Maria“, jeweils kurze Stücke, weil sie wissen, dass die Aufmerksamkeitsspanne der alten Leute begrenzt ist.

Bei ihren Auftritten moderieren sie sich stets selber. Auf charmante Weise erzählt Lion Hinrichs ein wenig über die Stücke, aber auch über sich und seine Partnerin, erklärt zum Beispiel, wie er mit der Geigerin kommuniziert, obwohl sie hinter seinem Rücken steht – durch hörbares Einatmen nämlich.

Beim Konzert im Pflegeheim ist der Nebengeräuschpegel hoch, eine Heimbewohnerin ruft unvermittelt „Die da hat meine Jacke an“, eine andere will mitten im Stück rausgefahren werden, aus verschiedenen Ecken ist immer wieder lautes Stöhnen zu hören. Überraschend leise wird es dagegen in der Aula der Albatros-Schule für geistig Behinderte in der Köpenicker Treskowallee, sobald die Musik einsetzt. Eben noch waren die Mädchen und Jungs wild durcheinander geflitzt, jetzt haben Julia Gröning und Lion Hinrichs sie mit ihrer Live-Darbietung gepackt. Wenn der Pianist die Kinder einbezieht und wissen will, welche der Tiere aus Camille Saint-Saens’ „Karneval“ sie erkannt haben, schnellen die Finger in die Höhe. Bei der Fragerunde am Ende werden dann auch sehr private Dinge angesprochen. Zum Beispiel, ob die beiden Künstler zusammen seien.

Musiker reißen sich um die Möglichkeit, mitzumachen

Sind sie tatsächlich. Und überzeugte LMN-Mitspieler dazu, die Spaß daran haben, sich auf die Herausforderungen einzulassen. „Im Studium geht es oft sehr verkopft zu“, sagt Lion Hinrichs, „hier ist eher die musikantische Seite des Berufs gefragt.“ Die Fähigkeit also, spontan aufs Publikum reagieren zu können, sich durch Unvorhergesehenes nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Was beiden für ihren weiteren Berufsweg durchaus nützlich sein kann. Denn jeder Auftritt zählt – und stählt.

Amélie von Gizycki, bei der alle organisatorischen Fäden des Berliner Vereins zusammenlaufen, berichtet nicht ohne Stolz, dass mittlerweile 672 Künstlerinnen und Künstler bei 3580 Auftritten in weit über 200 verschiedenen Institutionen rund 120 000 Menschen erreicht haben. Und etliche Musiker reißen sich um die Möglichkeit, bei „Live Music Now“ mitzumachen. Die Organisation ist bestens vernetzt in den Hochschulen, sie veranstaltet dort regelmäßig Vorspiele, zu denen die Professoren ihre besten Schüler schicken.

Lang ist zudem die Liste der Ehemaligen, die Karriere gemacht haben. Der Pianist Martin Helmchen war Berliner LMN-Stipendiat, ebenso der Cellist Nicholas Altstaedt, die Perkussionistin Ni Fan oder der Bariton Nicolai Borchev. Und auch die Berliner Philharmoniker Martin von der Nahmer und Solène Kermarrec gehören dazu.

Aufmunternde, entspannende Musik

Bewegend ist der Auftritt von Julia Gröning und Lion Hinrichs auch auf dem Campus des Virchow-Klinikums in der Amrumer Straße. Im Aufenthaltsraum der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es nur einen schrecklichen Klimperkasten, doch der Pianist weiß das bestens zu überspielen. Und zeigt wieder, dass er dieses Leonard-Bernstein-Gen hat und mit seiner locker-charismatischen Art die Menschen für sich gewinnen kann. Und für die Sache der Musik.

Die Patientinnen und Patienten sind zwischen sechs und 18 Jahre alt, Magersucht und Suizidgefahr gehören zu den häufigsten Krankheitsbildern. Auf dem „Konzeptplanungsformular“, das die Ehrenamtlichen allen Künstler zur Vorbereitung schicken, steht an diesem Tag: „Art der Musik: aufmunternd“ sowie „Therapieziel: Entspannung“.

Weil auch Gäste von anderen Stationen gekommen sind, ist das 35-Quadratmeter-Zimmer rappelvoll. Während Geige und Klavier erklingen, herrscht eine fast schon andächtige Ruhe. Man kann förmlich spüren, wie die jungen Zuhörer sich für die Klänge öffnen und Emotionen zulassen, die sie sonst streng unter Kontrolle halten. Da ist sie wieder, die Macht der Musik.

Das Benefizkonzert mit Katja Riemann und Marianna Shirinyan findet am Sonntag um 20 Uhr im Konzerthaus statt.

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