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Poem über das Vergessen. Die Performerin Ren Saibara.

© Renata Chueire

Premiere "Music for the future": Lieder können die Würde retten

Das Institut für Widerstand im Postfordismus widmet sich mit „Music for the future“ dem Thema Zwangsarbeit.

Wie erweist man 20 Millionen Menschen die Ehre, denen unsägliches Unrecht widerfahren ist? Schwere Aufgabe. „Aus Respekt“, erklärt die Performerin Elisa Müller, habe sie sich ein schönes schwarzes Kleid angezogen. Dann zitiert sie einen Satz der experimentellen Filmemacherin Juli Saragosa: „Meine Privilegien beruhen auf der Ausbeutung von Menschen in anderen Zeiten“. Gemeint sind hier die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter unter der NS-Diktatur. Ihnen widmet das Performancekollektiv „Institut für Widerstand im Postfordismus“ den Abend „Music for the future“, der in der ehemaligen Zollgarage auf dem Gelände des Flughafens Tempelhof stattfindet. Ein Ort mit historischem Nachhall.

Allein in Berlin gab es rund 3000 Sammelunterkünfte für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, für Männer, Frauen und Kinder, die Kriegsgefangene und KZ-Inhaftierte waren. Eines der größten Lager stand auf dem Gelände des Flughafens Tempelhof, wo sich entlang des Columbiadamms Baracke an Baracke reihte. Hier wurde zwischen 1940 und 1945 Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie verlangt, vor allem für die Weser Flugzeugbau GmbH. Ohne die Millionen versklavter Kräfte, die auch in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, wäre Hitlers Regime wohl früher am Ende gewesen.

Wie sich einem solchen Thema nähern? Der historisch-dokumentarische Zugang im Stile von Hans-Werner Kroesinger läge nahe. Oder eine Kompilation von Einzelschicksalen als großes Tableau der Grausamkeit. Tatsächlich werden in „Music for the future“ ein paar Geschichten anskizziert. Die eines Belgiers etwa, der fälschlich zum polnischen Staatsbürger erklärt wurde und dementsprechend auf Privilegien verzichten musste, die Zwangsarbeitern aus dem Westen zugestanden wurden. Oder die eines Ukrainers, der in einer Batterienfabrik zu schuften hatte und dessen Mittagessen aus 100 Gramm Brot und einer Kelle Suppe bestand. Aber das sind kurze Momente in einer Inszenierung, die sich sonst der Einfühlung radikal verschließt und eine ganz andere Frage stellt: Was haben die Ereignisse der Vergangenheit mit uns zu tun?

Der Gesang hilft, aus einer unerträglichen Gegenwart zu entkommen

Elisa Müller, die seit 2014 unter dem Label „Institut für Widerstand im Postfordismus“ arbeitet, weiß, dass die Erfahrung von Zwangsarbeit weder emotional noch theoretisch nacherlebbar ist. Natürlich, man kann Romane lesen wie Natascha Wodins „Sie kam aus Mariupol“, in dem Wodin dem Leben ihrer Mutter nachspürt, die als Zwangsarbeiterin verschleppt wurde. Und man kann sich an heutigen Debatten über den Umgang mit dem Nazi-Erbe reiben: wie in München, wo das Haus der Kunst von Bäumen verstellt ist, die als grüner Vorhang gnädig den Blick auf den Nazi-Bau verstellen sollen. „Trees of Shame“ werden sie genannt, Bäume der Schande. Weswegen in der Zollgarage eine Reihe kopfüber hängender Tannen oder Birken den Bühnenrand säumen. Aber der eigentliche Zugang liegt in der Musik. Genauer: in einem kunsttheoretischen, vor allem von Adorno befeuerten Diskurs über die Widerständigkeit der Musik.

„Was könnte die Vorstellungskraft mehr beflügeln?“, fragt Performer Marcus Reinhardt einmal. Und fügt an: „Lieder retten mitunter sogar die Würde“. Denn man weiß aus vielen Berichten von Zeitzeugen, von Opfern des NS-Terrors: Der Gesang hat geholfen, aus einer unerträglichen Gegenwart zu entkommen. Daran lässt sich auf einer universellen Ebene andocken. Mit der Fliehkraft der Musik hat wohl jeder Erfahrungen gemacht.

Müllers Institut, das eng mit der „Vierten Welt“ von Dirk Cieslak zusammenarbeitet, umkreist sein Thema in Ellipsen. Mischt historische Fakten und persönliche Fiktionen. Lässt die Performerin Ren Saibara ein großartiges Poem über das Vergessen tanzen. Und landet immer wieder in der Gegenwart. Zum Beispiel beim Konzert „One Love Manchester“, das ja den Opfern des Terroranschlags während des Ariana-Grande-Konzerts in Manchester gewidmet war. Zu weit weg von der Zwangsarbeit? Ganz klar: Der Abend bedient keine Erwartungen. Was bei der Premiere auch zu Unruhe führte bei einigen, die sich mehr Geschichte, Anklage und „Aufarbeitung“ gewünscht hatten.

Nur soviel sei verraten: Die Musik, über die so viel geredet wird, gibt es auch zu hören, vom großartigen Duo Sorry Gilberto. Aber ebenso wird nacherlebbar, was es bedeutet, sich nach der utopischen Kraft von Liedern zu verzehren.

Wieder 17. bis 19.7., 20 Uhr, Zollgarage Flughafen Tempelhof, Columbiadamm 10, Eintritt frei, Spende erbeten

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