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Weltweite Konflikte, wie der Kampf gegen den Islamischen Staat, sind nicht mehr mit der politischen Theorie vereinbar.

© dpa/JM Lopez

Politische Theorie im Angesicht der Realität: Besinnungslos glücklich

Realitätsblindheit: Das Schweigen der politischen Theorie im Angesicht der weltweiten Konfliktlage und ihr Rückbezug auf John Rawls beschäftigt die Autoren der Zeitschrift "Mittelweg 36".

Von Gregor Dotzauer

Die Geschichte der Politischen Philosophie lässt sich, wenn man Otfried Höffe, dem führenden deutschen Kopf der Zunft, vertraut, durch genau zwei Namen abstecken. An ihrem Anfang steht der Grieche Platon, an ihrem (vorläufigen) Ende der Amerikaner John Rawls. In der Tat gibt es in der westlichen Welt nach wie vor kein einflussreicheres Werk als dessen 1971 erschienene „Theorie der Gerechtigkeit“. Gegen die Dominanz der utilitaristischen Ethik in der englischsprachigen Welt arbeitet er darin Prinzipien heraus, die zu den Selbstverständlichkeiten moderner Demokratien gehören. Erstens Grundfreiheiten, zu denen der Anspruch auf die Unversehrtheit des Lebens, Meinungs- und Religionsfreiheit gehört; zweitens Verteilungsgerechtigkeit, die den Zugang zu Gütern ebenso umfasst wie zu Ämtern und Positionen. Damit wurde Rawls auch zum Hausphilosophen der deutschen Sozialdemokratie.

1999, drei Jahre vor Rawls’ Tod, dehnte er sein Gerechtigkeitsideal in „Das Recht der Völker“ auf die staatenübergreifende Ebene aus. Seitdem prägt sein Denken auch den Blick auf internationale Konflikte – soweit diese sich mit ihm noch erfassen lassen. Zwischen der Ukraine und Syrien steht die halbe Welt in Flammen: Was taugt das Begriffsgebäude eines Mannes, der sich, geprägt von Immanuel Kant, „Zum ewigen Frieden“ hingezogen fühlte und auf öffentlichem Vernunftgebrauch beharrte? Das ratlose Schweigen der politischen Theorie im Angesicht überwunden geglaubter Gewaltexzesse ist für die Autoren des aktuellen „Mittelweg 36“, der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung (Heft 2, 9,50 €, mittelweg36.de), der eindeutige „Effekt eines politischen Liberalismus, der Politische Theorie primär als Moralphilosophie oder Gerechtigkeitstheorie betreibt und so den Eigensinn von Politik nicht mehr in den Blick bekommt“.

Die liberale politische Theorie hat das Ende der Geschichte erreicht

Was zunächst als Vermutung formuliert ist, wandelt sich in fünf Beiträgen zur Gewissheit. „Politische Konflikte“, so Frieder Vogelmann, „die sich wie die Mehrzahl der gegenwärtig zu beobachtenden nicht als vernünftige Meinungsverschiedenheiten fassen lassen, betreffen sie nicht. Weder sind sie Teil der Wirklichkeit, die sie theoretisch bearbeitet, noch können solche Konflikte das Wissen liberaler politischer Theorie irritieren. Nicht die Welt, aber doch die liberale politische Theorie hat das Ende der Geschichte erreicht. Dort arbeitet sie emsig an der Subjektivierung endlich nur noch glücklicher blinzelnder Menschen.“

Gründlicher hat Rawls lange niemand mehr seine Realitätsblindheit vorgeworfen – obwohl sie zum Teil in der Natur des Gedankenexperiments liegt, mit dem er seine Theorie begründete. Gesellschaftlich Privilegierte wie Benachteiligte, schlug er vor, sollten sich hinter einen fiktiven „Schleier des Nichtwissens“ begeben, um ungeachtet der eigenen Position über Gerechtigkeit zu entscheiden.

Hilft eine Rückkehr zu Horkheimer?

Zwar war Rawls kein Pazifist. Regina Kreide wirft ihm nun allerdings vor, dass sein Rezept gegen Schurkenstaaten, die sich rechtsstaatlichen Prinzipien nicht beugen, militärische Interventionen seien, durch die Demokratien sich schon durch ihr „höheres Legitimationsniveau“ berechtigt fühlen. Der völkerrechtswidrige Irakkrieg 2002 aber habe das Gegenteil von Gerechtigkeit erreicht, nämlich ethnische Zersplitterung und die Geburt des Islamischen Staats. Kreide plädiert für eine Rückkehr zur Kritischen Theorie in der Tradition von Max Horkheimer.

Sie erlaube es, jenseits transzendentaler Wolkenkuckucksheime Erfahrungen von Ausbeutung, Ausgrenzung und Regression zu verarbeiten. Kreides neomarxistisches Vokabular – sie spricht von falschem Bewusstsein und kapitalistischen Handlungsblockaden – hat indes auch nur eine begrenzte Reichweite. Offener wirkt Martin Nonhoffs Versuch, die radikale Demokratietheorie von Jacques Rancière gegen Rawls’ aseptischen Idealismus zu mobilisieren. Wer Herrschaft trotz ihrer Unvermeidlichkeit nicht stets als Skandalon empfinde, verfehle womöglich die „Momente der Zerstörung und Erneuerung“. Wie zitiert er Sheldon Wolin so schön: „Demokratie war und ist das einzige politische Ideal, das seine eigene Verleugnung von Gleichheit und Inklusion verurteilt.“

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