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Der Regiealtmeister Peter Stein hat Shakespeares „Richard II.“ im antiken Theater von Verona inszeniert.

© picture alliance / dpa / EPA / LEONARDO MUNOZ

Peter Stein inszeniert „Richard II.“ in Verona: Der König ist eine Frau

Peter Stein inszeniert Shakespeares „Richard II.“ als Endspiel im antiken Theater von Verona. Mit Maddalena Crippa in der Titelrolle.

In einer der berühmtesten Shakespeare-Städte ist der Regiealtmeister Peter Stein, zuletzt in Salzburg oder an der Mailänder Scala mehr der Oper verpflichtet, auf die große Bühne des Schauspiels zurückgekehrt. Nicht in Stratford-upon-Avon oder in Helsingör, vielmehr in Verona. Und natürlich hat Stein dort, am imaginären Tatort, nicht „Romeo und Julia“ inszeniert. Sondern das eher selten gespielte Königsdrama „Richard II.“.

Einen Tag bevor am Wochenende in der Arena di Verona die (touristische) Opernsaison mit „Nabucco“ eröffnet wurde, stellte Stein seine in Kooperation mit dem Teatro Metastasio im toskanischen Prato und weiteren Festivals entstandene Produktion im antiken römischen Theater von Verona vor: fabelhaft gelegen zwischen dem Ufer der Etsch und dem Fuß des kleinen Schlossbergs von Castel San Pietro, gesäumt von Zypressen, Zedern, blühenden Oleandern. Hinter dem offenen Halbrund für knapp 2000 Zuschauer erheben sich malerische Ruinen, ein Löwentor und eine frühere Klosterkirche mit freskengeschmücktem Portal. Über der Bühne, einem schwarz ausgeschlagenen Guckkasten, leuchten Sterne und Mond – es sirren die Zikaden, und in der Tiefe rauscht mächtig der Fluss.

So haben Natur und Architektur ihren Part, und das Theater, das hier keinen „Sommernachtstraum“ spielt, muss einen Gegenzauber setzen. Mit einem Paukenschlag öffnet sich im schwarzen Bühnenkasten ein helles Geviert, und herein rollt vor einem Renaissancegemäldeprospekt mit Wappensymbolen Britanniens König auf seinem Thron, mit goldener Krone und kleinem Hofstaat. Derweil aus den Seitengassen der weitere Adel mit Gefolge tritt. Jeder im Wams, als sei er aus einem Gemälde der Zeit gestochen.

Der einzig spannende Konflikt liegt in Richard selbst

Das freilich wirkt für eine längere Weile recht opernhaft gespreizt oder steif, eigentlich müssten die Akteure gleich singen, statt in Wechselreden zu deklamieren und mit Zeigefingern geziert erregt und über beträchtliche Distanzen aufeinander einzustechen. Ab und an fliegen Fehdehandschuhe, was sich später dahin steigert, dass die einander des Verrats und Mordes beschuldigenden Kontrahenten Bolinbroke und Norfolk, zwei Herzöge, sich in vollem Blech und zugeklappten Visieren mit riesigen Lanzen duellieren. König Richard II. versucht da zu schlichten, indem er beide Parteien von Hof und Land verbannt, was wiederum neuen Ärger schafft. Und Krieg statt Frieden.

Dieser Richard, der historisch 1377 bis 1399 regierte, ist in Shakespeares um 1595 entstandenem Stück ein mal stolzer, mal flatterhaft nervöser Unglücksvogel, umgeben von lauter Übelkrähen – alle wie gefangen in einem Netz aus Wankelmut, Intrigen, gebrochenen Eiden, trügerischen Idealen, verblasenen Ambitionen. Kaum eine der rund 30 Figuren, bis auf Richard, gewinnt in dem langen, handlungsarmen Drama besondere Konturen. Der einzig spannende Konflikt liegt in Richard selbst, der alles zugleich zu sein scheint: ein zwischen Stärke und Schwäche, Intellektualität, spirituellen Anwandlungen und jäher Brutalität oszillierender Schwarm- und Tatgeist. Mörder und Märtyrer. In Robert Musils Sinn ein Mann ohne (besondere) Eigenschaften, dafür ein „Möglichkeitsmensch“.

Als Richard in Bedrängnis seine Krone im vorletzten Akt an Bolinbroke, den gleichfalls irrlichternden Usurpator, halb großmütig, halb widerwillig übergeben soll, antwortet er in Schlegels Übersetzung: „Ja, nein – nein, ja; mein Will’ ist nicht mehr mein, / So gilt mein Nein ja nicht, Ja muss es sein“. Und ruft später aus: „Wär’ ich ein Possenkönig doch aus Schnee“, um in der Sonne neuer Zeiten dahinzuschmelzen. Aus Bolinbroke wird nun Heinrich IV., mit Richard Zwei beginnen (chronologisch) bis zum Dritten Richard Shakespeares zehn Historiendramen. In Englands wirklicher Geschichte ist es ein Jahrhundert der Zerrüttung. Im Zeichen der sogenannten Rosenkriege.

Stein hat im Stück eine erstaunliche Heutigkeit entdeckt

Irrsinnig schwer zu spielen. „Richard II.“ ist eines der vier Shakespeare-Stücke, die nur in Versen geschrieben sind und geschichtsphilosophischen Gedankendramen gleichen. Claus Peymann hat es im deutschsprachigen Theater im Jahr 2000 mit Michael Maertens als quecksilbrigem Vielfacettenvirtuosen am Berliner Ensemble inszeniert. Das basierte, stark gekürzt, auf Thomas Braschs schneidiger Prosaversion. Und Luc Perceval ließ im Jahr zuvor seine zehnstündige Shakespeare-Collage „Schlachten!“ in Salzburg und Hamburg mit Richard II. beginnen, der sich nackt in nichts als seine Worte kleidete. Es endete mit Richard III., dem die Silben im Mund wie Asche zerfielen.

Auch Peter Stein, der das antiliterarische „postdramatische“ Theater verachtet, erklärte, dass er zuerst mal auf den Text setze. Das ist bei ihm weniger überraschend als die Besetzung der Titelrolle mit einer Frau. Mit Maddalena Crippa, aus Giorgio Strehlers Schule des Mailänder Piccolo Teatros kommend, ein im persönlichen Auftreten eher scheuer, zurückhaltender Star der italienischen Theater- und Filmszene, seit Jahren mit Stein verheiratet; die beiden leben auf einem Latifundium an der Grenze zwischen den Regionen Umbrien und Latium, mit eigenen Wäldern, Weinbergen, Oliven, Ferienhäusern, einem mittelalterlichen Dorf und einem darin von Stein erbauten Theater. Weitab von vielem.

Doch Stein, dieser manchmal erratisch wirkende, gegenüber Kollegen und Kritikern rappelköpfige Antimodernist, der seine einst revolutionären Berliner Schaubühnentriumphe am liebsten zu Missverständnissen (v)erklären möchte, er hat in diesem vertrackten König Richard auch eine erstaunliche Heutigkeit entdeckt. Ohne Mikroport, nur gestützt durch vier kleinere Mikrofone an der Bühnenrampe, imponiert das 20-köpfige Ensemble im weiten Raum mit einer heute nicht mehr selbstverständlichen Sprechkultur. Wer die romanische Neigung zu Sprecharien und einem oft überreichen Gebärdenspiel kennt, mag ahnen, wie präzise und streng der Italo-Teutone Stein da mit seinen Akteuren gearbeitet hat.

Crippa als Richard gleicht einer Beckett-Figur

Allein, es fehlt zur Belebung an mehr als nur den gelegentlichen Paukenschlägen, es bräuchte anstelle von statuarischem Auf und Ab und harten Blenden ein schnelleres, eher filmisches Mit- und Ineinander der Szenen. Obwohl Peter Stein die sprachschöne Prosaübersetzung von Alessandro Serpieri klug (auf gut drei Spielstunden) eingestrichen hat, bedarf es in der tropischen Sommernacht einige Geduld. Bis durch Maddalena Crippa das ein und andere Schauspielwunder geschieht.

In blütenweißem Anzug und mit ebenso weißem, straff zurückgekämmtem Haar unter der Goldkrone versucht Crippa zunächst, alle Energie ihrer zwischen Elfe, Knabe und Greis changierenden Figur in eine leicht heisere, harsch kommandierende Stimme zu legen, in lauernder Haltung. Ein alter, böser, verletzlicher Kindkönig. Doch auch sie schreitet und greift aus, erobert, ohne Thron, die Bühne und bringt das Lyrische wie Gedankliche in Shakespeares psychologischem Puzzle zum Schwingen. Im Fallen steigen, im Aufsteigen fallen – dafür finden Crippa und Stein bei der Machtübergabe an Bolinbroke (Alessandro Averone) einfache, spannungsvolle Gesten. Beim Ja und Nein und dem dann entschiedenen Jein lässt Crippa ihre Krone in der Hand auf- und abfahren wie die Gewichte einer Waage, und am Ende muss sich der vom Volk erwählte Usurpator (ein früher Populist!) die Königswürde selbst verleihen.

Wenn Richard, bevor er dem Machtwechsel zum Opfer fällt, im Tower die Häscher erwartet, gleicht Crippa, jetzt ganz in Grau und barfuß auf einem weißen Quadrat (dem späteren Leichentuch) einer Beckett-Figur. Ein Endspiel, statt Macht und Würde nur noch die schiere Existenz. Das wirkt dann groß. Und zeitlos.

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