zum Hauptinhalt
Als das Wasser noch von Pferdefuhrwerken kam. Istanbul, Ende der sechziger Jahre.

© imago/Gerhard Leber

Orhan Pamuks neuer Roman: Istanbul, die wiedergefundene Stadt

Das Glück des Boza-Verkäufers, Parkplatzwächters und Stromablesers Mevlut Karatas: "Diese Fremdheit in mir", Orhan Pamuks fabelhafter Istanbul-Roman.

Als Orhan Pamuk sich 2002 an seine Memoiren setzte, als gerade einmal 50-Jähriger Mann, vier Jahre, bevor er den Nobelpreis für Literatur erhalten sollte, war das für ihn gleichbedeutend damit, ein Erinnerungsbuch an Istanbul zu schreiben. Von „Istanbul als meinem Schicksal“ handeln diese Memoiren, vom Aufwachsen Pamuks in einer Stadt, die sich durch ein bestimmtes Gefühl auszeichnet, der Melancholie, in seiner speziellen Istanbuler Variante „hüzün“ genannt, einer Stadt, die für Pamuk wie ein Spiegel seiner selbst ist: „Wenn wir zu Fuß oder mit dem Dampfer in Istanbul unterwegs sind, vermischen sich mit den Bildern der Stadt ja nicht nur die Gefühle, die Istanbul in uns auslöst, sondern auch die Gefühle, mit denen wir selbst an die Stadt herangehen.“

All das muss man in Bezug setzen zu dem neuen und fabelhaften, heute auf Deutsch erscheinenden Roman von Orhan Pamuk, „Diese Fremdheit in mir“. Pamuk hat Istanbul abermals ein literarisches Denkmal gesetzt: dem alten Istanbul, das es nur noch in vereinzelten Spuren gibt, dem seiner Kindheit und Jugend. Und dem Istanbul, das sich in einem ständigen, schnellen Wandel befindet, politisch, gesellschaftlich, kulturell, städtebaulich, mit all den Problemen und Kehrseiten, die das mit sich bringt. Pamuk macht das, wie allein der lange Untertitel verrät, in dem er von den „Abenteuern und Träumen des Boza-Verkäufers Mevlut Karatas und seiner Freunde“ erzählt und dazu „ein aus zahlreichen Perspektiven erzähltes Panorama des Istanbuler Lebens zwischen 1969 und 2012“ entwirft.

Der Roman beginnt mit einer Art doppeltem Prolog. Man erfährt zuerst, wovon der Erzähler alles berichten wird – und was neben der Ankunft in Istanbul im Alter von 12 Jahren das einschneidendste Erlebnis Mevluts war: die Entführung der Liebe seines Lebens 1982 aus einem anatolischen Dorf, von Rayhia. Sie ist zwar die falsche Frau, nämlich die Schwester des Mädchens, das er vorher nur einmal bei einer Hochzeit gesehen und dem er anschließend viele schmachtende Liebesbriefe geschrieben hat. Aber mit Rayhia hat er es trotzdem goldrichtig getroffen.

Und dann, im zweiten kurzen Kapitel, wird Mevlut als leidenschaftlicher Boza- Verkäufer vorgestellt. Als solcher muss er eines Tages im Jahr 1994 erleben, dass auch Boza-Verkäufer nicht mehr der Istanbuler liebste, quasi unantastbare Mitbürger sind, sondern sehr wohl ganz profan ausgeraubt werden können: „In seinem fünfundzwanzigjährigen Dasein als Boza-Verkäufer ging er zum ersten Mal rasch nach Hause, ohne ,Boo-zaa’ zu rufen, obwohl seine Kannen noch nicht leer waren.“ Zuhause kündigt er seiner Rayhia an, aufzuhören mit dem Boza-Verkaufen.

Hier die Boza-Verkäufer, dort die Gecekondulars

Boza ist ein zähflüssiges, dunkelgelbes, leicht alkoholisches Getränk aus vergorener Hirse, mal etwas süßer, mal etwas saurer gerührt, das in Istanbul vor allem im Winter verkauft, durch den Vormarsch des Bieres auch in der Türkei zunehmend verdrängt und schließlich nur noch von Leuten wie Mevlut mit ihren Tragejochs verkauft wurde. Mevlut ist schon ein Mann von gestern, bevor sein Leben richtig beginnt, einer der mit seinen langgezogenen „Boo-zaa“-Rufen Pamuks Erzähler stets die Erinnerung an vergangene Jahrhunderte in Erinnerung zu rufen vermag, an „verlorene, glückliche Tage“.

Das überkommene Getränk fungiert in diesem Roman als große Metapher für den Wandel Istanbuls, auch bezüglich des Vormarsches religiöser Eiferer, ließen sich doch mit dem Bozatrinken lange Zeit die allerstrengsten Religionsregeln ein wenig umgehen. Die andere große Metapher sind die primitiven illegalen Behausungen, die „Gecekondulars“, die Mevluts Vater und Onkel bauen, als sie in den sechziger Jahren aus ihren Dörfern nach Istanbul kommen, auf den Hügeln der Stadt, auf Grundstücken, die niemandem gehören. In den Jahrzehnten danach wurden diese Gecekondu-Siedlungen immer größer, auch komfortabler, versehen mit Wasser- und Stromanschlüssen. Zum anderen wurden sie zu Objekten krummer Geschäfte, gerade im Fall ihrer Legalisierung und der Klärung von Eigentumsrechten.

Nachdem Orhan Pamuk in einem altväterlichen, märchenonkelhaften Ton von den entscheidenen Punkten in Mevluts Leben erzählt und seinen Roman in die Spur gesetzt hat, schildert er chronologisch Mevluts Werdegang: dessen Kindheit, Schul-, Militär- und Straßenverkäuferlaufbahn, die Tage, da auch seine Töchter nach dem frühen Tod von Rayhia aus dem Haus gehen. Nach und nach springen Mevluts Verwandte und Freunde dem Erzähler zur Seite und stellen aus ihrer Perspektive die verschlungenen, vielgestaltigen Istanbuler Verhältnisse dar: realistischer, gewitzter, hintertriebener, böser und oft auch, gerade im Fall der Frauen verzweifelter, als es der grundgute, verträumte Mevlut vermag.

Pamuk führt gezielt freundlich durch seinen Roman

Mit Mevlut hat Pamuk einen betont naiven Helden geschaffen, einen genügsamen Verlierertypen und Schelm, eine Sympathiefigur ohne größere Widersprüche, die keine nennenswerte innere Entwicklung im Verlauf ihres Lebens durchmacht. Trotzdem fragt Mevlut sich hin und wieder, was mit ihm los ist, was ihn unterscheidet von den anderen: „Da ist so eine Fremdheit in mir“, sagt er einmal zu Rayhia, „was immer ich auch tue, ich fühle mich ganz einsam auf der Welt.“ Und diese Fremdheit, die begleitet ihn bis zum Ende, auf die kommt er oft zurück. In ihr spiegeln sich die Transformationen der Stadt, sie steht stellvertretend für die gleichermaßen belastende wie schön Melancholie, für das Verlangen, das Vergangene zu bewahren.

Erstaunlich ist, wie gezielt freundlich Pamuk durch den Roman führt, wie wenig widerständig seine Prosa ist, wie leicht, so als ob er noch die unbedarftesten Leser erreichen wollte (angeblich ist „Diese Fremdheit in mir“ von Pamuk in der Türkei bislang erfolgreichster Roman). Selbst einen Stammbaum von den Familien der Joghurt- und Boza-Verkäufer Hasan Aktas und Mustafa Karatas gibt es, und hinten im Anhang ein weiteres Personenverzeichnis sowie eine Chronologie des Romangeschehens, auch vor dem Hintergrund historischer Ereignisse.

„Diese Fremdheit in mir“ trägt schmökerhafte Züge, ein schöner Liebesroman ist er sowieso. Trotzdem steht nicht nur Wohlfühlen auf seinem Programm, sondern auch die Politik, und dafür ist Mevlut mit seiner Gutmütigkeit, Verträumtheit und Unbedarftheit, seinen neben dem Boza-Verkauf zahlreichen Jobs in Restaurants, als Parkplatzwächter oder Stromableser ein idealtypischer Held. Denn einerseits erlebt er die Veränderungen in der Stadt hautnah mit, andererseits lässt er sich nicht vereinnahmen. Militärputsch, die Vertreibung der Griechen, der Krieg gegen die Kurden, das Aufkommen der Islamisten, die Veränderung von einem säkularen hin zu einem mehr und mehr religiösen Staatswesen, Korruption, Gentrifizierung, Neoliberalismus, alles drin in diesem Roman. Und nicht zuletzt sind da die Emanzipationsprozesse der türkischen Frauen, ihre Schwierigkeiten und Probleme, sich zwischen Tradition und Moderne zurecht finden. Am schönsten und treffendsten kommt das in einer dreiseitigen Klage von Mevluts Schwägerin Vediha zum Ausdruck, in der sie unter anderem fragt, ob es eigentlich „recht und billig sei, dass Melahat, wenn sie mir aus dem Kaffeesatz liest, mir so überheblich bescheinigt, ich sei ,natürlich von den Männern mein Leben lang unterdrückt’ worden.“

Das letzte Kapitel des Romans heißt resignierend „Wie schnell stirbt eine Stadt“. Auch Mevlut wohnt jetzt mit seiner zweiten Frau in einem neuen, 12-stöckigen Hochhaus und holt bei Verhandlungen über andere Wohnungen das Bestmögliche für sich raus. Doch so wie er abschließend ein Hoch auf das Gehen durch Istanbuls Straßen anstimmt, wie er sich eingesteht, dass sich die Realität der Stadt mit seinen Wahrnehmungen und Vorstellungen von dieser zunehmend deckt („alles aus demselben Stoff“), wie er endlich weiß, was er der Stadt als Lebensbilanz auf ihre Mauern zu schreiben hat, nämlich „Ich habe Rayiha mehr geliebt als irgendetwas sonst auf der Welt“ – so erkennt man, dass in diesem Mevlut viel von dem kleinen Orhan steckt. Und womöglich ist er „der zweite Orhan“, den Pamuk sich in seiner Kindheit imaginiert hat und dessen eine große Liebe nie vergehen wird: die zu Istanbul.

Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir. Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag, München 2016. 588 Seiten, 26 €

Zur Startseite