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Kultur: Nur keine Mädchen

Mara Hvistendahl beschreibt die fatalen Folgen der Familienpolitik in Asien.

Die Zahl der Vergewaltigungen in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi ist laut Pressemitteilungen im vergangenen Jahr um 23 Prozent gestiegen. Nach der Lektüre des vorliegenden Buchs versteht man diese Zahl plötzlich in ihrem gesellschaftlichen Kontext. Selektive Geburtenkontrolle in China und Indien wurde vom Westen, von den USA, in den 1970er und 1980er Jahren in Gang gesetzt und befördert. Die Überbevölkerung sollte eingedämmt werden. Ultraschallmethoden wurden exportiert und immer billiger und leichter zugänglich gemacht. Am Ende stand der verbreitete Wunsch der Einheimischen, keine Mädchen, sondern nur noch Jungen in die Welt setzen zu wollen.

Ein indischer Demograf beschrieb der amerikanischen Wissenschaftsjournalistin Mara Hvistendahl die paradoxe Situation in seinem Land: „Einerseits steht Indien glänzend da. Wir haben acht Prozent, neun Prozent Wachstum … Immer mehr Mädchen gehen in die Schule und bilden sich. Immer mehr Frauen finden eine Beschäftigung. Immer mehr Frauen mischen in der Politik mit … Und auf der andern Seite dann das – da wird der Fetus getötet, bloß weil es ein Mädchen ist.“

Der Machbarkeitswahn von Labortüftlern sorgt für einen gewaltigen Strukturwandel in der Welt. Sexhandel und Brautkauf bringen atemberaubende Renditen. Frauendiskriminierung nimmt zu, Vergewaltigung, Prostitution, Zwangsehe. Doch irgendwann in der nahen Zukunft werden auch die „Nachschubquellen“, wie Hvistendahl sie nennt, für die Männergesellschaft in den betroffenen Gebieten versiegen. In verschiedenen Regionen dieser Welt sprach die 33-jährige Wissenschaftsjournalistin und Asienkorrespondentin mit Demografen, Wirtschaftswissenschaftlern, Ärzten, Genetikern, Militärs. Der Titel ihrer umfangreichen Studie lautet auf Deutsch: „Das Verschwinden der Frauen.“

Auf das Thema aufmerksam geworden war sie durch einen französischen Demografen. Christophe Guilmoto registrierte in Indien ein alarmierendes Phänomen, das Hvistendahl zusammenfasst: „Die Kombination von Ultraschalluntersuchung und Abtreibung hat über 160 Millionen Frauen und Mädchen schon vor der Geburt als Opfer gefordert – und das allein in Asien … Wenn aus der US-amerikanischen Bevölkerung 160 Millionen Frauen verschwunden wären, würde man das merken: 160 Millionen, das ist mehr als der gesamte Frauenanteil.“

Thronfolger sind etwas wert, auch Erben und Genträger. Ein bestimmtes Geschlecht wird zur sozialen Norm. Ein Baby zu einer Frage des Prestiges. Die Imagepflege der Eltern steht im Vordergrund und ökonomische Aspekte spielen auch eine Rolle: Bei einem Jungen werden Aussteuer und Mitgift gespart.

Mara Hvistendahl fand in ihrer umfangreichen Recherche heraus, dass diese selektive Geburtenkontrolle mittlerweile nicht mehr auf Asien, also Indien, China, Südkorea, Vietnam beschränkt ist. Auch in den Kaukasusstaaten werden ähnliche Phänomene registriert, also in Aserbaidschan, Georgien, Armenien. Und selbst der Balkan und Europa sind davon schon betroffen. Hier werden Albanien, Bosnien, Serbien, Montenegro, das Kosovo, Mazedonien genannt. Doch Politik und Öffentlichkeit haben „selektive Geburtenkontrolle und die Folgen“, so der Untertitel, bisher kaum wahrgenommen. Stefan Berkholz

– Mara Hvistendahl: Das Verschwinden der Frauen. Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013. 424 Seiten, 24,90 Euro

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