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Schutzmaßnahme: Im nordnigerianischen Gombe, das regelmäßig von Boko Haram angegriffen wird, haben junge Freiwillige einen Kontrollpunkt in der Nähe des Krankenhauses errichtet.

© Reuters

Nigeria und die Terrorgruppe Boko Haram: Angst hinter geschlossenen Läden

Die Anschläge von Boko Haram lähmen den Nordosten von Nigeria – im täglichen Leben und auch in der Kultur. Ein Stimmungsbild aus einer bedrohten Region.

Nigeria ist die Heimat vieler Stämme, Kulturen und Religionen. Bisher waren die kulturellen Unterschiede eine Kraftquelle für die Menschen. Die verschiedenen Sprachen und Glaubensrichtungen waren keine Barrieren zwischen ihnen. Doch seit die extremistische Islamistengruppe Boko Haram ihre Terrorakte verübt, vertrauen und tolerieren sich die Stämme und Religionen zunehmend weniger.

Zunächst tarnte die Gruppe ihre Aktivitäten als Religionskrieg. 2011 wurden in den drei nordöstlichen Staaten Borno, Adamawa und Yobe Kirchen niedergebrannt und Christen attackiert. Anschließend ging Boko Haram dazu über, islamische Gelehrte und traditionelle Machthaber anzugreifen, die ihre Ideologie ablehnen. Danach wurden Schulen, private Institutionen und sogar Einkaufszentren in den Nordstaaten sowie in der Gegend um die Hauptstadt Abuja zum Ziel der radikalen Sekte. Es traf auch das UN-Gebäude im Central Business District von Abuja.

Um sich zu finanzieren, überfiel die Gruppe Banken. Sie brach in Gefängnisse ein, legte Bomben auf Märkten und entführte Menschen, darunter auch die mehr als 200 Mädchen aus der Chibok-Schule. Bei dieser Geiselnahme im April des letzten Jahres wurde zudem der gesamte Schulkomplex in Schutt und Asche gelegt.

Diese albtraumhafte Entführung hatte in Nigeria auch den Effekt eines Weckrufs. Zwar waren in dieser Gegend schon häufiger Menschen entführt worden, doch dieses Mal handelte es sich um wehrlose junge Mädchen. Sowohl ihre große Zahl als auch die hinterhältige Weise ihrer Geiselnahme waren extrem beunruhigend. Zumal sich die Regierung unfähig zeigte, der brutalen Aktion etwas entgegenzusetzen. Wegen der staatlichen Untätigkeit starteten nationale und internationale Gruppen die Kampagne mit dem Slogan „Bring Back Our Girls“. Sie drängten unter anderem auf die Entsendung militärischer Einheiten in die Region, in die die Mädchen höchstwahrscheinlich entführt worden waren.

Täglich werden im Nordosten Nigerias Menschen gekidnappt und verstümmelt

Monate später sind die Schülerinnen noch immer verschwunden. Ihr Fall bleibt ungelöst, während die Regierung die Aufmerksamkeit auf die Mitte Februar anstehende Wahl zu lenken versucht. Doch der Terror der Sekte hat das Land auf drastische Weise erschüttert. Rund 1,3 Millionen Menschen sind aus den nordöstlichen Staaten Borno, Adamawa und Yobe geflohen und leben in Lagern, die in der Region und in Abuja errichtet wurden.

In den genannten Staaten, aber auch in Bauchi, Taraba und Gombe werden täglich Menschen gekidnappt und verstümmelt. Geschäfte werden niedergebrannt oder sie schließen gleich selbst aus Angst vor Attacken. In Gombe wurden Anfang der Woche 18 Menschen bei einem Selbstmordanschlag verletzt, der einer Kundgebung von Staatschef Goodluck Jonathan galt. Man vermutet, dass die Islamisten dahinterstecken.

Boko Haram hat das nigerianische Gemeinschaftsleben verwüstet. Treffen mit Freunden, der erweiterten Familie oder in größeren Gruppen sind schon länger eingestellt worden. Nigerianer im Norden entspannen sich nicht länger bei Spaziergängen im Park. Sie gehen nach einem langen Tag auch nicht mehr ins Kino, Theater oder in die Kneipe. Das waren früher typische Freizeitaktivitäten der unteren und der mittleren Schichten. Auch die von der Oberschicht frequentierten Nacht- und Gesellschaftsclubs gibt es in den meisten Orten nicht mehr.

Ein Professor des Instituts für Theater und Darstellende Künste an der Universität von Maiduguri sagt, dass die Menschen in Angst leben. Auch er möchte seinen Namen nicht gedruckt wissen. Die Millionenstadt Maiduguri wurde an den letzten beiden Wochenenden von Boko Haram angegriffen, die Armee konnte die Gruppe zurückschlagen. Mit ihren Angriffen und Drohungen lebt man hier aber schon länger. „Die Leute haben sich daran gewöhnt, früh nach Hause zu gehen. Schon um 17 Uhr sind sie in ihren Häusern“, berichtet der Professor. Deshalb finde nun alles tagsüber statt. Auch Theateraufführungen. „Wir schließen die Fenster, um den Saal zu verdunkeln und Theaterlicht verwenden zu können. Die Aufführungen beginnen um 15 Uhr, und bis 17 Uhr sind wir fertig.“ Es sind in letzter Zeit auch einige von den Boko-Haram-Aktivitäten beeinflusste Stücke entstanden, so der Professor weiter. Allerdings werden sie nicht öffentlich aufgeführt, sondern nur für die universitäre Gemeinschaft – aus Angst vor der Sekte.

Im zentralnigerianischen Plateau State, der in letzter Zeit besonders heftig von Boko Haram angegriffen wurde, liegt die Stadt Jos. Laut Joseph Obilom, Pädagogik-Professor an der örtlichen Universität, war die Gegend wegen ihrer angenehmen Witterung ein beliebtes Ziel für in- und ausländische Touristen. Auch das von traditionellen Musik- und Tanzvorstellungen geprägte Unterhaltungsgewerbe florierte einst und war eine wichtige Einnahmequelle. „Doch jetzt haben die Menschen wegen der Angriffe Angst, zusammenzukommen,“ sagt Obilom.

Ein Gedichtband mit dem Titel "When The Girls Return" soll im März erscheinen

Die Kreativen in Nigeria haben bislang kaum auf Boko Haram reagiert. Der Filmemacher, Schauspieler und Produzent Kanayo O. Kanayo – einer der führenden Köpfe Nollywoods, der äußert produktiven Filmwirtschaft des Landes – führt finanzielle Gründe für dieses Zögern an. „Um einen Film zu machen, der überzeugend aussieht und die Zuschauer emotional berührt, benötigt man ein hohes Budget“, sagt er. „Wir müssen Massaker zeigen, wir brauchen militärische Ausrüstung, Fahrzeuge und Uniformen.“ Das sei anspruchsvoll und aufwendig, doch man denke in diese Richtung. „Es ist nur eine Frage der Zeit“, so Kanayo.

Auch aus der Literaturszene von Abuja gibt es noch keine Reaktion auf den Terror. Immerhin entsteht derzeit eine Gedicht-Anthologie mit dem Titel „When The Girls Return“, die im März erscheinen soll. Die Musiker des Landes verhalten sich ebenfalls ruhig. Offenbar sind sie eingeschüchtert von den Gewaltakten.

Die einzige nennenswerte kulturelle Aktion zu Boko Haram war eine Tour der National Troupe of Nigeria, einer Agentur des Ministeriums für Tourismus, Kultur und Nationale Orientierung. Shaibu Husseini, Sprecher der Initiative, erklärt, dass dabei Theaterszenen auf Markplätzen und anderen Treffpunkten in Gemeinden des Nordens aufgeführt wurden, die das friedliche Zusammenleben zwischen Angehörigen verschiedener Stämme und Religionen propagierten.

Im aggressiven Wahlkampf der Peoples Democratic Party (PDP) von Präsident Goodluck Jonathan und dem oppositionellen All Progressives Congress (APC) ist das Thema Sicherheit inzwischen zentral. Der APC verspricht, Boko Haram zu stoppen. Viele Menschen glauben aber auch, dass Jonathan nach einer Wiederwahl entschieden gegen die Gruppe vorgehen wird. Bisher hat er die Bedrohung allerdings eher heruntergespielt. Und so ist das vorherrschende Gefühl in Nigeria zwei Wochen vor der Wahl: Verzweiflung.

Aus dem Englischen von Nadine Lange

Andra Edozie Nwachi

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