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Szene aus "Wolfskinder" an der Neuköllner Oper.

© Matthias Heyde/N.O.

Neuköllner Oper: "Wolfskinder": Hänsel und Gretel im Krieg

Triumph an der Neuköllner Oper: Ulrike Schwab inszeniert Humperdincks "Hänsel und Gretel" unter dem Titel „Wolfskinder“. Es ist die beste Produktion des Hauses seit Jahren. Unbedingt hingehen!

So hat man die Ouvertüre von „Hänsel und Gretel“ noch nie gehört: In totaler Dunkelheit, vom Band, aber nicht glasklar. Es knackt, rauscht und stolpert, als würde ein Grammofon ruckeln und zuckeln. Zögerlich geht Licht an, goldgelb schimmert eine Lampe. Ein Haus, ein Wohnzimmer, da steht eine Frau, und tatsächlich: Da ist das Grammofon. Als die Ouvertüre anschwillt, am wagnerischsten wird, kommt etwas anderes hinzu: Bomber, Jagdflieger, Maschinengewehre, Tschak-Tschak-Tschak, einstürzendes Mauerwerk, Geschrei, Gebrüll. Humperdincks Klänge werden übertönt, aber nie nie vollständig abgetötet, der Kampf zwischen dem Sound des Krieges und der Musik wogt hin und her, bis er schließlich in erneute Dunkelheit ausläuft.

Und jetzt? Fängt die Frau an zu singen, ganz alleine, a capella: „Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?“ Eine Zweite – man hat sie gar nicht gesehen, versteckt unterm Tisch – fällt ihr ins Wort, eine Dritte kommt dazu, eine Vierte. Nach kurzer Zeit bevölkern sieben Sängerinnen das kleine Haus, das mit gedrechselten Tischbeinen und schwerem Teppich an ein bürgerliches Interieur um 1890 erinnert, der Entstehungszeit der Märchenoper. Und an ein verlorenes Zuhause.

Hunger, Wald, Angst, Einsamkeit

Die Zuschauer werden Zeugen einer kleinen Sensation. Die Neuköllner Oper macht sich selbst, verspätet, das schönste Geschenk zum 40-jährigen Bestehen, und hievt ihre – mindestens – beste Produktion der letzten zehn Jahre auf die Bühne. Unter dem Titel „Wolfskinder“ erzählt Regisseurin Ulrike Schwab „Hänsel und Gretel“ neu, verschränkt mit der Geschichte der sogenannten Wolfskinder. Tausende sollen es gewesen sein, die 1945, bei der Bombardierung Ostpreußens, ihre Eltern verloren, durch die Wälder irrten, schließlich in Litauen aufgenommen wurde, manche als billige Arbeitskräfte, manche als neue Familienmitglieder. Ein tragisch vergessenes Kapitel, untergegangen im Mahlstrom des an schrecklichen Details so reichen Zweiten Weltkriegs.

Was den Abend spektakulär macht, ist Schwabs Umgang mit den beiden Stoffkreisen, dem Märchen und den historischen Fakten. Hunger, Wald, Angst, Einsamkeit, es gibt zahlreiche Anknüpfungspunkte. In pausenlosen 90 Minuten ereignet sich ein Musiktheaterwunder. Nichts wird dem anderen aufgepfropft, nichts mit dem Brecheisen auf eine andere Ebene gehoben. Alles passiert völlig natürlich, wie selbstverständlich, aus dem Stück heraus, kunstvoll verfugt. Zeitzeugenberichte erzählen vom Abschied aus der Heimatstadt im Wissen, diese nie wieder zu sehen. Sie werden nur gesprochen, haben keine eigene Musik. Humperdincks Partitur wiederum ist gekürzt, und doch ist alles da, Sandmann, Taumann, Abendsegen, die Knusperhexe als Imagination und Projektion eigener Alpträume.

Die sieben Frauen leisten Fantastisches

Angela Braun, Isabelle Klemt, Maja Lange, Ildiko Ludwig, Marine Madelin, Laura Esterina Pezzoli und Amélie Saadia leisten Fantastisches. Wie soll man diese sieben Frauen nennen? Sängerinnen? Performerinnen? Musikerinnen? Denn sie tanzen auch – und spielen, plötzlich ist da ein Cello, intoniert „Hunger ist der beste Koch“, eine Geige kommt hinzu, zwei Flöten, ein Klavier, der klatschende Deckel eines Bierkrugs ersetzt Schlagwerk. Den Hexenritt, mit dem der zweite Akt eröffnet, präsentieren sie als ausgewachsenes Septett (Arrangement: Tobias Schwencke und Markus Syperek), und der Besucher sitzt da mit offenem Mund und denkt nur: Wie gut ist das denn?

Denn das Stück führt Humperdincks Musik nicht nur auf den Zustand zurück, in dem sie ursprünglich entstand: als Kammermusik für die eigene Familie. Es ist auch mit fassungslos machender Akribie, Sorgfalt, Intelligenz, Leidenschaft und Liebe gearbeitet, nie wird die Partitur wegen vermeintlicher Harmlosigkeiten oder Naivität verspottet oder verraten, immer zu hundert Prozent ernst genommen.

Regisseurin Ulrike Schwab war zuletzt bei den „Neuen Szenen“ in der Tischlerei der Deutschen Oper dabei, im März wird sie im Radialsystem inszenieren. Nach dieser Produktion will man mehr von ihr sehen. Selbst im Finale, das bei Humperdinck eigentlich viel zu seligmachend und apfelwangenrot ist für die Geschichte der Wolfskinder, kriegt sie die Kurve. Manche von ihnen haben als Erwachsene Vater, Mutter, Geschwister wiedergesehen, mit allen Entfremdungen und Problemen, die das mit sich bringt. Ein Happy End auf Sparflamme, aber gerade weil mehr eben nicht drin ist, ist es so überzeugend. Und auch die Gegenwart von 2018, die wahrlich mehr als genug Fluchtgeschichten bietet – 50 Prozent aller Flüchtlinge weltweit sollen Kinder sein – schwingt als Folie immer mit.

Langer Jubel, frenetischer Applaus, wie man ihn noch nie in der Neuköllner Oper gehört hat. Nach diesem Abend wird man wahrscheinlich „Hänsel und Gretel“ nie wieder konventionell runtererzählt sehen können. Es gibt nur ein Wort, das dafür angemessen ist: Hingehen!

Weitere Aufführungen bis 24. Februar, neukoellneroper.de

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