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Szene aus dem Schimmelpfennig-Stück "Der Tag, als ich nicht ich mehr war"

© Arno Declair/DT

Neues Stück von Roland Schimmelpfennig: Fütter mein Ego

Prenzlauer-Berg-Biedermeier: Roland Schimmelpfennigs neues Stück „Der Tag, als ich nicht ich mehr war“ an den DT-Kammerspielen.

Erste Erkenntnis des neuen Jahres aus dem Deutschen Theater Berlin: Die dionysischen Phantasien sind auch nicht mehr das, was sie mal waren! Für den Mann, der sich in Roland Schimmelpfennigs neuem Stück „Der Tag, als ich nicht ich mehr war“ aus seinem Spießerleben herausbeamt, beginnt der große Ausstiegstraum mit einer Schwarzfahrt im „Omnibus“. „Ich bin in den letzten fünfundzwanzig Jahren nicht ein einziges Mal ohne gültigen Fahrschein gefahren“, jubilieren die Schauspieler Camill Jammal und Elias Arens auf der Kammerbühne des DT mit müder Energie. Aber „an diesem Morgen ... denke ich: egal.“

Auf diesem Gesetzesübertretungslevel geht es weiter. Fahrscheinlos im Büro angekommen, hat der Mann – zwischen vierzig und fünfzig, Gatte einer blondgelockten Frau sowie Vater achtzehnjähriger Zwillinge – eine Sexualphantasie: Er stellt sich vor, ein brustnaher Knopf an der Bluse der „Empfangsdame und Sekretärin Jenni, noch jung, keine Dreißig“ zu sein. Man darf diesen Blusenknopf-Traum durchaus als Schlüsselmoment des Abends auffassen. Denn in diesem denkwürdigen Augenblick spaltet sich der biedere Einfamilienhaus-Gatte quasi von sich selbst ab, um sich über besagte Zwischenexistenz als Empfangsdamen-Blusenknopf schließlich zu einer Art, nun ja, wilderem Doppelgänger seiner selbst zu vervollkommnen.

Fortan kommt der Mann also nach Hause – und sieht sich zu seiner Überraschung bereits am Abendbrottisch sitzen. Oder – andere Version – nicht er, sondern allein seine Frau sieht ihn bereits das dünne Süppchen löffeln. Aber egal: Außer den Abend zu strecken, tun diese von Schimmelpfennig durchgespielten Varianten wenig zur Handlungssache. Entscheidend hingegen ist, dass sich auch die Gattin verdoppelt und damit ihrerseits die faire Chance auf ein Klischee-Traum-Repertoire bekommt, das dem Blusenknopf in nichts nachsteht.

„Ich hoffe, ihr erbt meine Beine und meine Stimme!“ Diesen Modelmaß-affinen Sängerinnen-Traum – geben die Zwillinge (Tabitha Frehner und Jeremy Mockridge) lächelnd zum Besten – hätte ihnen die Mutter immer wieder eingeflüstert. Während er in ihr selbst lediglich in einer versuchsverruchten Schrumpfform überlebt hat: „Sie trägt zum Schlafen ein Negligée, seitdem sie das einmal in einem Film oder auf einem Photo von Marilyn Monroe gesehen hatte“, erzählt Franziska Machens in der Rolle der Frau, die wie meist bei Schimmelpfennig von sich selbst in der dritten Person spricht und hier zusätzlich kokett die Beine unter einem weißen Spitzenunterkleid in Szene setzt.

Die Negligée-Sache ist "voll yesterday"

Die Negligée-Sache mag zwar, um mal den Gender-Experten René Pollesch zu zitieren, „voll yesterday“ sein. Aber sie ermöglicht dem wilden Gatten-Alter-Ego (Elias Arens), das sich doch tatsächlich mit ungeputzten Zähnen und komplett pyjamalos ins Ehebett neben den in Blusenknöpfen-Träumen entschlummerten Gatten (Camill Jammal) gelegt hat, einen Satz zu sprechen, der die Frau verklemmt-verzückt geradezu erzittern lässt: „Ich dachte, Marilyn trug nachts nichts außer einem Tropfen Chanel fünf“. Und schon hüpft die Frau Nummer zwei (Maike Knirsch) mit dem Nacktschläfer im fleischfarbenen Ganzkörperanzug kichernd durchs Vorgarten-Gebüsch.

Halleluja! Man kann wirklich nur hoffen, dass Roland Schimmelpfennig unrecht hat und das Prenzlauer-Berg-Biedermeier in seinen abgründigsten Träumen von einem anderen Leben wenigstens die Verruchtheitsschwelle des Zahnputzverzichts überschreitet! Hätte es jedenfalls noch irgendeines Beweises fürs omnipräsente Gesellschaftsrollback bedurft, das DT hätte ihn mit diesem Abend wirklich mustergültig erbracht!

In diese Richtung denkt offenbar auch die Uraufführungsregisseurin dieses Auftragswerkes – Anne Lenk – und siedelt das Ganze in einem Fünfziger-Retro-Jahre-Setting an. Die Hüte, Anzüge, Frisuren und Kleider (Kostüme: Sibylle Wallum) erinnern an die US- Serie „Mad Men“ – minus deren Hedonismus. Die romantischen Topoi, von denen sich das Stück abstößt – das Doppelgänger-Motiv oder der (hier zum Häusle-Vorgarten geschrumpfte) Wald – werden auf Judith Oswalds Bühne ausdrücklich semi-ironisch und gern auch mal mit expressionistischem Stummfilm-Charme behandelt.

Was insofern konsequent ist, als vom kulturgeschichtlichen Überbau im Text tatsächlich wenig mehr bleibt als Raunen: Der idealistische Philosoph und Freiheitsdenker Johann Gottlieb Fichte, den das Programmheft mit der Erkenntnis: „Das Ich setzt das Nicht-Ich als beschränkt durch das Ich. Das Ich setzt sich selbst als beschränkt durch das Nicht-Ich“ zitiert, lebt unter Schimmelpfennigs heutigen Ego-Entgrenzern lediglich als sichteinschränkender Vorgarten-Baum fort. Als – jawohl – Fichte, die zu fällen der (männlichen) Sehnsucht höchstes Ziel ist.

Wieder am 19., 28. und 31. Januar

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