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Meister der konzisen, geschliffenen Erzählkunst. Der Schriftsteller Botho Strauß.

© Ruth Walz

Neuer Prosaband von Botho Strauß: Traumgesichte, Liebeskämpfe

Mit „Oniritti“ legt Botho Strauß einen seiner umfangreichsten Prosabände der letzten Jahre vor. Ein groteskes Meisterwerk, bei dem er mit jedem Satz aufs Ganze geht.

Zum „Reich der Verstorbenen“ führe ein Stolleneingang, heißt es in altertümelnder Manier zu Beginn einer Geschichte. Sogleich aber folgt ein jäher Sprung in die Moderne, denn verschlossen sei der Eingang „mit einer Stahlschiebetür, die man nur mit Hilfe eines zugeteilten Codes öffnen konnte“. Drinnen im Berg hockt eine Elfe, die die Toten herbeirufen soll, eine schmächtige Frau mit „Flügelstummeln und Hornbrille“. Ihre Rufe bleiben allerdings erfolglos, denn die Stimme dieser Elfe ist zu „fiepsig“. Dumm gelaufen: „Ich hatte mit der schwächsten, der kostengünstigsten vorliebgenommen“.

So wechseln die Eindrücke ständig zwischen Einst und Jetzt, Heiligem und Profanem, mythischer Tiefe und heutiger Alltagsrationalität. Mythos und Moderne – diese vielberufene Spannung ist für keinen Autor so kennzeichnend wie für Botho Strauß. Es rumort unter der Bühne der Gegenwart. Archaisches drängt herauf oder zieht herunter. Stollen, Unterwelten, Höhlen, Höhlungen und Hadesbezüge jeder Art – das ist die Bildwelt von „Oniritti“, dem mit fast 300 Seiten umfangreichsten Prosawerk des Autors seit Langem.

Der Traum als poetologische Praxis

Es versammelt ein halbes tausend dunkler Kurzgeschichten, Szenen, Glossen, Denkbilder und Parabeln, die allenfalls in losen Zusammenhängen stehen. Der erlesene Titel ist eine Wortschöpfung, die „Graffiti“ und „Oneiros“ kreuzt, das altgriechische Wort für „Traumgesicht“. Bildschriften auf der Höhlenwand der Nacht – das ist die Poetik, mit der Strauß hier spielt.

„Tatsächliche Begegnungen brachten mir selten viel ein. Erst wenn die Menschen in der hochauflösenden Überdeutlichkeit des Traums erscheinen, werden sie mir lesbar und zugänglich.“ Nun soll man aber nicht glauben, Botho Strauß hätte tatsächlich ein Traumtagebuch verfasst. „Traum“ ist hier die poetologische Maxime eines Schreibens, das die Wirklichkeit ins Surreale treibt und traumartige Bilder zu fixieren sucht, als wären es Geschichten, die auf sinngebende Pointen zulaufen, auch wenn diese im nächsten Moment wieder zerstäuben.

Groteske Prosastücke in konziser, geschliffener Erzählkunst

Der Erzähler nimmt sie genau in Augenschein, die „Traumliebeskämpfe“ und die „höhnischen Fresken“, die „aus der Kuppel der Nacht auf dich herabschielen“. Da lesen wir von einer „Riesenschläferin“ im Mauerwerk, da verschwindet ein Mann in mysteriöser Umstülpung durch sein eigenes Ohr, da erfahren wir von dem „Vergrößerten“, der in einem Handschuhgeschäft vom Riesenwuchs ereilt wird, staunen über die Frau, die von schnappenden Türen verfolgt wird, oder über den Mann, der von seinem eigenen Haus ausgekippt wird.

Da wundern wir uns über den kraftstrotzenden Krüppel, der „ausschließlich in Buchhandlungen sein Unwesen trieb, die lesefreudigen Kunden umklammerte und niederrang, denn, so sagte es ihm sein dumpfer Instinkt, unter den Leuten mit erhöhtem Bildungsgrad durfte er auch die höchste Toleranz erwarten. Und tatsächlich waren alle vom Krüppel Bezwungenen ‚wahnsinnig nett’ zu ihm ...“ Es sind hintersinnige Grotesken jener Art, wie sie der straußbegeisterte Schriftsteller Heinz Strunk vor zwei Jahren in einem Lesebuch mit dem Titel „Der in sein Haus zurückgestopfte Jäger“ versammelt hat. Die spezifische Komik des Traums kommt dabei nicht zu kurz: „Mancher lacht nur im Schlaf und sonst nie.“

Die Prosastücke schwelgen nicht im Irrationalen, sondern bereiten die nächtlichen Stoffe mit konziser, geschliffener Erzählkunst auf. Überdeutlichkeit und Verrätselung schließen sich dabei nicht aus, scheinen sich bei Strauß sogar eher gegenseitig zu bedingen.

Er geht mit jedem Satz aufs Ganze

Dieser Autor ist ein Augenmensch; die ineinanderwirkenden Kräfte des scharfen Beobachtens und reflektierenden Ergründens geben seiner Prosa den Puls. Im Kern ist das ein aphoristisches Verfahren, denn dem guten Aphorismus gelingt genau dies: die pointierte Verbindung von Anschauung und Denken. Andere Texte lesen sich wie Skizzen von Theaterszenen, die zu eigenwillig sind, um ihren Platz im Plot eines Stückes zu finden: „Der schwer atmende zugebundene Kartoffelsack in der Zimmerecke enthält einen Menschen“, beginnt wie eine Regieanweisung eine der Kürzestgeschichten. Eine Frau ordnet ihr Leben neu, räumt das Zimmer um, und der im Sack entsorgte Mann („der Büßer“) gibt dazu knappe Anweisungen – offenbar kann er das Bestimmen nicht lassen.

Zu den großen Kontexten gehören Platons Höhle ebenso wie die labyrinthischen Carceri des Architekturvisionärs Piranesi und die Höllenschlünde Dantes. Und, hier zum literarischen Zentralgestirn erhoben, Francesco Colonnas phantasmagorisch illustrierter Renaissanceroman „Hypnerotomachia Poliphili“ aus dem Jahr 1499. Zur Mythomanie kommt bei Strauß allerdings eine hartnäckige Treue zur modernen Ästhetik des Fragments, die man in dieser Radikalität sonst bei keinem anderen Autor mehr findet. Kleinformen des Erzählens gelten ja als geschäftsschädigend. Dass Strauß keine Romane schreibt, schon gar nicht im herkömmlich durcherzählten Sinn, hat damit zu tun, dass er mit jedem Satz aufs Ganze geht.

In prägnanter Kürze versucht er, einer Erscheinung beizukommen, eine Physiognomie zu durchdringen, eine Handlung oder Gebärde durchsichtig zu machen. Ein Romancier dagegen schreibt immer in Hinblick auf einen nächsten Winkelzug des Plots, den nächsten Cliffhanger, das Finale. Botho Strauß mag sie nicht: diese „geschickt geschriebenen Romane voller schlechtgesehener Menschen“.

Einer der herausforderndsten und klügsten deutschen Schriftsteller

„Jeder in seiner Grube, Nische, Höhle“ – verstärkt denkt man dabei inzwischen an die digitalen Höhlen, von deren Wänden die Echos der eigenen Meinungen netzwerkverstärkt zurückhallen. Auch wenn in diesem Band das Erzählerische überwiegt, die Leitmotive der Strauß’schen Kultur- und Medienkritik sind gut zu vernehmen: „Und der Wahnsinn fuhr in die Netze. Unaufhörlich tröllerten die Telefone …“ Einmal ist von Kursen die Rede, in denen die Menschen „das Aufblicken vom Handy“ neu erlernen.

Der Verlust der Intimität und der Niedergang des Eros gehören zu den Grundthemen. Für diejenigen, die Botho Strauß als „Reaktionär“ aussortieren möchten, bietet „Oniritti“ jedoch wenig Angriffsfläche. Hier ist stattdessen einer der interessantesten, klügsten und herausforderndsten deutschen Schriftsteller zu vernehmen, dessen polemische Essays, etwa die kulturkonservative Selbststilisierung zum „letzten Deutschen“, nicht als Überzeugungstaten, sondern als „Versuche“ und Versuchungen im Sinn der experimentellen literarischen Gattung zu verstehen sind. An Überzeugungen, liest man hier, störe die „Enge des Ausgesagten, das Grundfalsche schon im Stil des Feststellens und Argumentierens“.

Dieses „Grundfalsche“ – wer daran leidet, etwa beim Anhören von Talkshows, der besitzt die Sensibilität für diese Lektüre. „Oniritti“ ist ein reichhaltiges Lesebuch, das man in kleinen Portionen zu sich nehmen sollte. Manche Texte bleiben kryptisch, andere öffnen sich wie merkwürdige Nachtgewächse – und man liest sie gleich zweimal.

Botho Strauß: Oniritti. Höhlenbilder. Hanser Verlag, München 2016. 280 Seiten, 22 €.

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