zum Hauptinhalt
Helle Hörhöhle. Der Saal besteht aus 320 Tonnen Holz und Stahl.

© Peter Adamik/promo

Neuer Boulez Saal in Berlin: In der Herzkammer

Das Auge hört mit: Der Pierre Boulez Saal in der Berliner Barenboim-Said-Akademie ist eröffnet. Zedernholz und elliptische Formen dominieren den klangvollen Raum.

Keine Reden, kein Promi-Schischi, einfach nur Musik. Mit dem Konzert zur Eröffnung des Pierre Boulez Saals macht Initiator Daniel Barenboim unmissverständlich klar, worum es hier künftig gehen soll. Um ein ganz besonders intensives Miteinander der Interpreten nämlich, und um mitdenkende Aufmerksamkeit auch in den Reihen der Besucher. „Konzerte sollte man grundsätzlich als Kommunikationsmittel betrachten, als lebendigen Kontakt zwischen aktiven Personen, seien sie Hörende oder Schaffende“, hat Pierre Boulez einmal gesagt, der große Komponist, der als Dirigent auch ein kluger Musikvermittler war – und ein Kulturpolitiker von erstaunlichem Durchsetzungsvermögen.

Vieles konnte sich Daniel Barenboim von dem verehrten väterlichen Freund abschauen im Laufe ihrer jahrzehntelangen Freundschaft. In der Kunst, bei staatlichen Stellen Geld für seine Projekte locker zu machen, hat er es ebenfalls zur Meisterschaft gebracht. 18 Millionen Euro investierte der Bund in den Umbau des ehemaligen Kulissendepots der Staatsoper an der Französischen Straße zur Barenboim-Said-Akademie samt 680-Plätze-Konzertsaal, von Kulturstaatsministerin Monika Grütters kommen die laufenden Betriebskosten in Höhe von sieben Millionen Euro, das Außenministerium finanziert die Stipendien der 90 Akademisten, die zumeist aus Israel und den arabischen Ländern kommen und hier lernen sollen, wie wichtig es im Musizieren wie im Diskutieren ist, einander zuzuhören.

Pierre Boulez, im Januar 2016 verstorben, hat immer von einer „salle modulable“ geträumt, einem wirklich variablen Raum, in dem sich die Künstler nicht den architektonischen Gegebenheiten anpassen, sondern umgekehrt. Beim Bau der Pariser Bastille-Oper ist er mit diesem Vorhaben gescheitert, ebenso beim Sommerfestival im schweizerischen Luzern, dem er als Mentor fürs Zeitgenössische verbunden war. Mit dem Berliner Saal, der seinen Namen trägt, ist die Vision jetzt Wirklichkeit geworden. Was Frank Gehry, der 87-jährige Starbaumeister, hier geschaffen hat, ist ein kleines Raumwunder. Der klassischen Schuhkarton-Kubatur, die von der denkmalgeschützten Gebäudeform vorgegeben war, setzt er auf mehreren Ebenen elliptische Formen entgegen.

Die Gäste sitzen wie rund ums Lagerfeuer

Oben schweben zwei Ränge als Ringe, die in sich auch noch eine Wellenbewegung beschreiben. 320 Tonnen Holz und Stahl, die an nur fünf Punkten in den Wänden verankert sind. Oval ausgeschnitten ist auch das Parkett. Wie ums Lagerfeuer sitzen hier die Gäste der Einweihungsfeier am Samstag. Das aber ist nur eine der möglichen Sitzordnungen. Die Sessel sind nämlich auf diversen Podest-Elementen fixiert, die sich jeweils individuell versenken lassen. Die Bühne kann also auch an den Stirn- respektive Längsseiten aufgebaut werden, neben der Arena-Anordnung ist die Amphitheater-Form ebenso realisierbar wie eine klassische Bestuhlung mit parallelen Reihen.

Nicht jeder Interpret hat gerne auch Zuhörer im Rücken, nicht jedes Streichquartett, das hier auftritt, wird sich die Idee des Saal-Intendanten Ole Baekhoj zu eigen machen, dass die Musiker für jedes Stück die Plätze wechseln könnten, so dass die Zuhörer mal dem Cellisten ins Gesicht schauen und mal dem Bratscher. Daniel Barenboim, der Menschenfänger, hat natürlich kein Problem mit der Tuchfühlung. Er stellt sich gerne in die Mitte, agiert auf Augenhöhe mit dem Publikum. Bei den groß besetzten Werken des Eröffnungsabends konnten jene, die in der ersten Reihe sitzen, die Musiker fast mit Händen greifen, denn kein Podium hebt sie hier von den Zuhörern ab, gibt ihnen Schutz und kennzeichnet sie als diejenigen, zu denen die anderen aufblicken.

Die Überraschung, das Unerwartete ist Prinzip in diesem Haus. Egal, ob man sich von der Hedwigskathedrale her nähert oder vom Gendarmenmarkt: Von außen deutet nichts auf das spektakuläre Innenleben hin. Nachkriegs-Rokoko ist da zu sehen, derselbe Kunstgeschichts-Talmi, mit dem Richard Paulick auch die wieder aufgebaute Lindenoper ausgestattet hat. Wer die Eingangstüren passiert, findet sich überrascht in einer hohen Halle mit Industriecharme wieder, die nicht zu Frank Gehrys Freundschaftsgeschenk an Barenboim gehört. Der Amerikaner hat pro bono nur den Saal-Entwurf beigesteuert, für das Foyer zeichnet sein deutscher Kollege HG Merz verantwortlich, dem auch die archaisch-eleganten Räumlichkeiten der Barenboim-Said-Akademie linkerhand zu verdanken sind. Sichtbare Stahlträger und rohe Betonwände erzählen von der früheren Nutzung des Gebäudes, auch die Rolltore sind erhalten, hinter denen sich auf mehreren Etagen die Bühnenbild-Boxen befanden, lange, schmale Gelasse zur Lagerung gerade nicht benötigter Dekorationsteile.

Überraschung Nummer drei wartet rechterhand: Der Pierre Boulez Saal nämlich ist ganz heimelige Hörhöhle, rundrum mit lebendig gemasertem, leicht rötlichem Zedernholz verkleidet. Einen feinen Kontrapunkt bilden die Fenster zur Straße hin, die mit zentimeterdickem Sicherheitsglas gegen den Straßenlärm abgeschottet wurden. Vor Konzertbeginn schnurren Jalousien herab, um Ablenkung durch das Geschehen draußen zu verhindern.

Erstaunlich ist die weitgehend glatte Oberfläche der Wände. Und auch die Deckenplatten weisen nur ganz leichte Wölbungen auf. Entsteht eine gute Akustik nicht dann, wenn der Schall möglichst viele Möglichkeiten zur Brechung findet, wofür in alten Sälen die Stuckelemente, die Putten, Kapitelle und Balustraden zuständig sind, während die „Haut“ neuer Säle wie der Elbphilharmonie mit tausenden und abertausenden Buckelchen und Einbuchtungen versehen sind?

Alle Klangprobleme sind inzwischen glücklich behoben

Yosuhisa Toyota, der in Hamburg zuständige Raumklang-Spezialist, war auch, ebenfalls kostenlos, beim Pierre Boulez Saal beteiligt. Viel Zeit haben der Japaner und sein Team hier verbracht seit dem Spontan-Konzert, das Barenboim Anfang Dezember mit seinem West Eastern Diwan Orchestra bei der Eröffnung des akademischen Jahres gegeben hat. Damals war der Höreindruck zwiespältig, schienen die Streicher wenig durchsetzungsfähig, der Klang generell zu schnell ans Ohr zu dringen, nicht voll entfaltet.

Am Samstag kann – zumindest auf dem Sitzplatz des Kritikers im Rang – von Problemen keine Rede mehr sein. Warm und doch auch transparent wirkt das Spiel der Musikerinnen und Musiker, und zwar unabhängig von ihrer Stellung im Raum oder der Größe der Besetzung. Im dreieinhalbstündigen Eröffnungskonzert führt der Maestro nämlich gleich das ganze Spektrum an Spielmöglichkeiten vor, vom Solo bis zur 15-köpfigen Besetzung, von Mozart bis zu Jörg Widmanns „Fantasie“ von 1993, die der komponierende Klarinettist mit toller Virtuosität darbietet, nicht auf der Bühne, sondern oben im Rang.

Hat Toyota also nachgebessert? Oder haben sich Barenboim und seine Interpreten mittlerweile einfach nur mit den Gegebenheiten des Raumes besser vertraut machen können? In einem Interview erzählte der Akustiker jüngst von seinem ersten großen Projekt, der Suntory Hall in Tokio. Die wurde nach dem Vorbild der Berliner Philharmonie konzipiert und machte den Musikern zunächst große Schwierigkeiten. Nach zwei, drei Jahren aber kamen sie zu Toyota und sagten: Dank Ihrer Verbesserung klingt der Saal jetzt wirklich großartig! Dabei hatte er gar nichts verändert: „Das Einzige, was wir tun können ist warten. Der Einstimmungsprozess findet hauptsächlich aufseiten der Musiker statt.“

Barenboim verteilt Löwenmäulchen an die Mitstreiter

Hinzu kommt ein zweiter Aspekt, der „Psychoakustik“ genannt wird: „Das Visuelle ist wichtig für Musiker, denn sie arbeiten nicht auf mathematischer, sondern auf künstlerischer Basis.“ Und Wohlfühlen kann man sich im Pierre Boulez Saal zweifellos, auch als Zuhörer. Intim und sinnlich wirkt die Verbindung aus der Natürlichkeit der Optik und der verblüffenden Nähe zu den Ausführenden. Kein Besucher ist weiter als 14 Meter von ihnen entfernt, und obwohl der Blick von der Galerie durch die vielen Gitterstäbe der Brüstung nicht optimal ist, fühlt sich der Hörer auch hier unmittelbar angesprochen.

Boulez’ „Initiale“ für Blechbläser steht am Anfang des kurzweiligen Marathons, sein „Sur Incises“ beschließt ihn, eine Komposition für je drei Flügel, Harfen und Schlagwerker, die eine halbe Stunde lang immer neue, komplex konzipierte Klangwolken aufsteigen lassen, raumfüllend, faszinierend verführerisch. Im Schlussjubel umarmt Daniel Barenboim seinen Architekten und seinen Akustiker, verteilt Löwenmäulchen an alle seine Mitstreiter. Berlins Klassikszene hat eine neue Herzkammer hinzugewonnen.

Informationen zum Programm unter www.boulezsaal.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false