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In Dänemark vielfach ausgezeichnet. Naja Marie Aidt zu Besuch bei ihrem Verlag Gyldendal in Kopenhagen.

© Amdi Thorkild/p-a/AP

Naja Marie Aidts „Schere, Stein, Papier“: Die Schmerzen der Freiheit

Wenn der tote Vater nicht sterben will: die dänische Schriftstellerin Naja Marie Aidt und ihr Roman „Schere, Stein, Papier“.

Es ist der Geruch von verbranntem Brot und der bittere Geschmack einer zurückliegenden Kindheit, die Naja Marie Aidts Geschichte in Gang setzen. Vergegenständlicht wird beides durch einen alten Toaster, nicht gerade ein übliches Symbol der Literatur. Doch er steht für alles, was den erwachsenen Thomas O’Mally Lindström und seine jüngere Schwester Jenny noch verbindet: die Erinnerung an den kriminellen Vater Jacques, an die Ausgesetztheit, die sie als Kinder empfanden, wenn er sie im Suff schlug, und an die kaum noch präsente Mutter, die ihre Kinder früh verließ.

Nun ist Jacques im Knast gestorben, und Jenny möchte sich den Toaster als einziges Erbstück sichern. Doch dann findet Thomas darin Bündel von Geld, viel Geld, das der Vater von seinem letzten Coup dort versteckt hat. Soll er es der Polizei übergeben? Oder spenden? Oder noch besser seiner in prekären Verhältnissen lebenden Schwester und deren Tochter überlassen? Vielleicht eröffnet ihm dieser unverhoffte Fund aber auch das Tor zur Freiheit.

Vorerst verschiebt Thomas die Entscheidung und versteckt das Geld in einer alten Mikrowelle. Von diesem Augenblick an geschieht etwas Folgerichtiges und doch Unkontrollierbares: „Schere, Stein, Papier“, dieses alte Kinderspiel, das dem Romandebüt der dänischen Lyrikerin Naja Marie Aidt, 1963 in Grönland geboren und heute in Brooklyn zu Hause, die zehnte Elegie Rilkes als Motto voran den Titel gibt, entscheidet am Ende das Schicksal. „Und wir, die an steigendes Glück / denken“, heißt es mit vorangestellten Versen aus Rilkes zehnter Duineser Elegie, „empfänden die Rührung, / die uns beinah bestürzt, / wenn ein Glückliches fällt.“

Papierwaren in digitalen Zeiten

Denn ist dieser Thomas O' Mally Lindström, der seiner Familienmisere entkommen und sich erfolgreich emporgearbeitet hat, nicht ein Glücklicher? Zusammen mit seinem Kumpel Maloney und ein paar Angestellten betreibt er eine im digitalen Zeitalter geradezu luxuriös wirkende Papierwarenhandlung, wohnt mit seiner attraktiven Lebensgefährtin Patricia, Abkömmling aus besseren Verhältnissen, in einer adretten Wohnung und hat, wie er sich selbst versichert, „alles richtig gemacht“. Würde ihm Patricia nicht ständig mit der Kinderfrage in den Ohren liegen und Jenny sich nicht aufführen wie ein alt gewordenes Kind, wäre alles in Ordnung. Fast jedenfalls – und bis er das Geld des Vaters entdeckt hat. Denn inmitten des bürgerlichen Idylls spürt Thomas, dass er nicht mehr ganz bei sich ist: „Ich stehe immer nur gerade so mit einem Fuß in dieser Welt. Ich spiele mich selbst in dieser Welt. Aber ich bin bloß das, was ich spiele.“

So spielt er Patricia den Liebhaber vor, im Laden den guten Geschäftsmann und bei Jenny den beschützenden Bruder, während in ihm die Schuldgefühle wuchern und umschlagen in unterdrückte Aggression. Die beiden Frauen in seinem Leben wissen, wie sie auf dieser Gefühlsklaviatur zu spielen haben, ohne sie genau ausloten zu können: „Sie pflanzt Schuld in ihn“, heißt es beispielsweise in Bezug auf Patricia, „er fühlt Wut in sich aufsteigen, Rastlosigkeit.“ Thomas muss „all seine Energie aufwenden, um nicht seinem Drang nachzugeben und gewalttätig zu werden.“

Statt sich mit dem unrechtmäßig erworbenen Geld Freiheit zu erkaufen, ergreifen Angst und Paranoia Besitz von ihm. Als der junge, mysteriös wirkende Luke auftaucht, ein bislang nicht in Erscheinung getretenes Ziehkind des Vaters, schwankt der Boden, auf dem Thomas Existenz bislang fest gegründet zu sein schien, selbst seine sexuelle Orientierung changiert. Die Ereignisse, die auch Thomas Umfeld in Mitleidenschaft ziehen, überschlagen sich, Schuld und Scham treiben den Mann, der seinem toten Vater in Hassliebe verbunden ist, auf eine Katastrophe zu.

Welttheater als Kammerspiel

Nicht ohne Grund hat Aidt ihre Geschichte geografisch nicht verortet, verweisen die Namen ihrer Protagonisten und die Schauplätze ins Ungefähre, denn dieses Kammerstück der Gefühle ist Welttheater, seismografisch verfolgt vom kühl sezierenden Blick einer Autorin, die tief in ihre Protagonisten eindringt und gelegentlich die Perspektive wechselt – nicht ohne Anteilnahme an Thomas’ Schicksal, seiner zunehmenden Selbstentfremdung und Orientierungslosigkeit. Denn dieser Thomas bleibt in seinem alten dumpfen Schmerz verkapselt, er „schwebt über der Welt“, weiß, dass er „völlig aus dem Takt“ gekommen ist. Nur beim Anblick von Papier, beim Befühlen des Aquarellpapiers, der glatten Skizzenblöcke und der „akkurat sechseckigen Bleistifte“, beim „frischen Duft von neuen Federmäppchen“ und der Erinnerung an den Geruch zerbröselter Radiergummis in seiner Schulzeit scheint er zu sich zu kommen, so wie dieser Roman zu sich zu kommen scheint, wenn er den lyrischen Charakter der Dinge erhellt oder sich in die Abgründe dunkler Triebe begibt.

Ansonsten wird – leider – viel behauptet, in Gesprächen über Literatur etwa, die wie eine akademische Vorlesung daherkommen und über Gedichte, die nonchalant auswendig zu deklamieren man weder dem toten Jacques und seinem lebenden Adlatus, Luke, zutraut, noch dieser ganzen zusammengewürfelten Sippschaft, die sich im ländlichen Nirgendwo bei einem Scheunenfest zusammenfindet und kluge Reden über Lyrik hält.

Dass sich dieser Roman dennoch ziemlich spannend liest, verdankt sich der psychologischen und ästhetischen Sensibilität einer an der Lyrik geschulten und mit dem Nordischen Literaturpreis ausgezeichneten Autorin, die einen Protagonisten auf die Bühne hebt, der ein altes männliches Thema, die Suche nach einem Leben in Freiheit von Schmerz, neu belebt.

Naja Marie Aidt: Schere, Stein, Papier. Roman. Aus dem Dänischen von Flora Fink. Luchterhand Literaturverlag, München 2017. 444 Seiten, 22 €..

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