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Täglich fünf Seiten. Peter Härtling am Schreibtisch in Mörfelden-Walldorf.

© Frank May/dpa

Nachruf Peter Härtling: Hüter guter Geister

Einen wie ihn wird es nicht mehr geben: Zum Tod des Schriftstellers Peter Härtling.

Von Gregor Dotzauer

Er war ein Hansdampf in fast allen literarischen Gassen. Wenn man Peter Härtling dabei kaum hinterherkam, lag das allein an seiner Schnelligkeit und Produktivität. Denn was immer er anfasste, nahm er ernst, und wo sein Name den Umschlag zierte, konnte man sich auf Geschmack, Intelligenz, Lebensklugheit, Anstand, Kenntnisreichtum und Gründlichkeit verlassen. Auf klare deutsche Prosa sowieso. Als Autor von Künstlerbiografien mit stark fiktionalisierendem Einschlag war er so beliebt wie als Verfasser von Kinder- und Jugendbüchern. Tag für Tag erreichten ihn Stapel von Leserbriefen.

Müßig zu erwähnen, dass er auch ein achtbarer Lyriker war. Nach Romanfantasien über Mozart, Schubert und Schumann trotzte er sich zuletzt noch ein Porträt des Komponisten ab, der ihm, als er schon glaubte, auf dem Totenbett zu liegen, neues Leben einhauchte: „Verdi“. Und seinen jungen Lesern brachte er mit „Djadi, Flüchtlingsjunge“ ein syrisches Schicksal in Deutschland nahe, in das auch die Erinnerung an die eigene Flucht aus Mähren 1945 Eingang fand.

Peter Härtling, 1933 in Chemnitz geboren, sah seinen Vater, der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft einen sinnlosen Tod starb, nicht mehr wieder. In „Nachgetragene Liebe“ (1980), neben Christoph Meckels „Suchbild“ das berühmteste Vaterbuch jener Jahre, hielt er von ihm fest, was er festhalten konnte. 1946 nahm sich die Mutter, traumatisiert von Flucht und Vergewaltigung, das Leben. Der Waise ging in Nürtingen am Neckar aufs Gymnasium, schmiss aber ein Jahr vor dem Abitur die Schule und verdingte sich als Fabrikarbeiter, bevor er in der Lokalredaktion seiner heimischen Tageszeitung volontierte. Über eine Stelle bei der „Heidenheimer Zeitung“ fand er erst ins Feuilleton, dann in die Literaturredaktion der „Deutschen Zeitung“ in Stuttgart und schließlich zu Melvin J. Laskys legendärer, in Berlin erscheinender politisch-kultureller Zeitschrift „Der Monat“.

Freiheit statt Verlagskarriere

Von da an schien der Weg zu Höherem vorgezeichnet. 1967 nahm er das Angebot an, in Frankfurt Cheflektor des S. Fischer Verlages zu werden, wurde in Mörfelden-Walldorf sesshaft und im Jahr darauf Sprecher der Geschäftsführung. Doch 1973, in dem Jahr, in dem „Zwettl“, die rückhaltlos autobiografische „Überprüfung einer Erinnerung“ an die letzten Kriegstage erschien, suchte er die schriftstellerische Freiheit. Härtling, der zu dieser Zeit schon ein nennenswertes Werk und eine Einladung zu Gruppe 47 vorweisen konnte, hat sie wohl nie bereut, und er traf auf Strukturen, innerhalb derer er sie einigermaßen auskömmlich leben konnte. Dazu gehörte auch „Literatur im Kreuzverhör“, eine Raterunde des Hessischen Rundfunks, die er über 40 Jahre lang, bis November 2015 moderierte.

Bei alledem hat er weder seinen leicht schwäbischen Zungenschlag eingebüßt noch das besondere Interesse für die Region rund um den Neckar. Zu seinen bekanntesten Büchern wurde eine „Annäherung“ an Hölderlin, die man als zu brav und pittoresk geißeln kann, aber 1976 vielen mehr Wege zum „pauvre Holterling“ öffnete als die Biografie des Germanisten Pierre Bertaux. Härtling schrieb auch über Eduard Mörike („Die dreifache Maria“), Wilhelm Waiblinger („Waiblingers Augen“) oder Nikolaus Lenau („Niembsch oder Der Stillstand“).

Verschmitzt und mit leisen Anwandlungen von Melancholie hielt er die selbstreflexiven Fäden einer gemäßigten Moderne zusammen. Er ehrte die kulturellen Geister der Vergangenheit und lenkte die Aufmerksamkeit auf so manche übersehenen von ihnen. Und er gab der Gegenwart, was er ihr schuldig zu sein glaubte: als SPD-Redenschreiber in den sechziger Jahren oder als Gegner der Frankfurter Startbahn West in den Achtzigern. Jetzt ist Peter Härtling mit 83 Jahren gestorben. Einen wie ihn wird es nicht mehr geben.

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