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Im Exil der Sprache. Imre Kertész 2007 bei einer Basler Lesung aus seinem "Dossier K.".

© Georgios Kefalas/dpa

Nachruf Imre Kertész: Aus der langen Nacht

Von Anfang an nahm er sich in seiner Kunst mitleidlos in den Blick. Vieles von dem, worüber er schrieb, hat Imre Kertész erleben müssen. Von der Verschleppung nach Auschwitz bis zu den Demütigungen des hohen Alters. Doch in seiner Prosa verbarg sich trotz aller Schmerzhaftigkeit auch das Gegenteil: eine Feier des Lebens

Von Gregor Dotzauer

Letzte Einkehr: So hieß das überwiegend in Berlin entstandene Tagebuch, aus dessen Notizen der schon schwer parkinsonkranke Imre Kertész 2013 den Abschluss seines Werks destillieren wollte. Aufzeichnungen vom Hinaustreten aus einem Leben, das er als Geschichte fortlaufender Demütigungen empfand. Material zu einer „Naturkunde des Verfalls“ mit einem „Exit“, der unweigerlich im Jenseits der Literatur stattfinden muss.Im Frühjahr 2015 erschien „Letzte Einkehr“ noch einmal als „Tagebuchroman“: um die Daten der aus den Jahren 2001 bis 2009 stammenden Einträge zumeist bereinigt, gekürzt, verdichtet und in seinen schonungslos intimen Details zum Exemplarischen gehärtet. Dem Ideal, das Kertész in der ersten Fassung formuliert hatte, kam es damit schon ziemlich nahe: „Ein radikal persönliches Buch, bis schließlich nichts mehr übrig bleibt. Den Weg zu Ende gehen, im wortwörtlichen Sinn. Die Figur zerrütten, zermalmen, zernichten. Aber möglichst ohne jede Erklärung, vor allem ohne jede sogenannte Philosophie.“

Was er als „Krönung“ seines Werks betrachtete, ließ sich indes anders, als er es beabsichtigt hatte, nur noch teilweise ins Erleben einer durch und durch fiktionalen Romanfigur übersetzen. Zwischen einem Ich, das sich mit größtmöglicher Nüchternheit von außen zu betrachten versucht, und einem Er, dem die Innenperspektive nicht auszutreiben ist, schuf er mit der zweiten Fassung der „Letzten Einkehr“ die unreinste, brüchigste, aber auch ergreifendste Form seiner Autofiktionen, die 1992 mit dem gleichfalls Roman genannten „Galeerentagebuch“ begannen. Es blieb die Gattung, die er so entscheidend prägte wie - auf je andere Weise - nur noch J. M. Coetzee mit seiner afrikanischen Trilogie und Paul Nizon mit seinen Expeditionen ins Dickicht von Paris. Wobei auch seine auf Anhieb als Romane erkennbaren Bücher das Autofiktionale nie abstreiften.

Imre Kertész, am 9. November 1929 in Budapest geboren, hatte von Anfang an eine Kunst im Sinn, die ihren Schöpfer mitleidlos in den Blick nimmt, aber auch sofort wieder von ihm absieht. Der liebenswürdige, höfliche, warmherzige Mensch, der er war, verwandelte sich unter den eigenen Händen in eine literarische Figur, die vom erkalteten Lebensstoff ihres anderen Ichs zehrte.

Genau ein halbes Jahrhundert liegt zwischen den ersten, auf 1961 datierten Eintragungen des „Galeerentagebuchs“ und den ersten der „Letzten Einkehr“. Ein halbes Jahrhundert - und eine ganze Welt. Als junger Mann hatte Kertész, der seinen Lebensunterhalt nach journalistischen Anfängen als Musical-Librettist und Übersetzer deutscher Literatur von Friedrich Nietzsche, Arthur Schnitzler, Joseph Roth und Elias Canetti verdiente, die bedrückende Budapester Enge des frühen János-Kádár-Regimes erlebt. Mit zunehmender Bekanntheit (und wachsendem Unbehagen mit dem Antisemitismus in Ungarn) suchte er sein Heil im Westen. 2001, das Jahr, in dem er den Literaturnobelpreis für sein Gesamtwerk und insbesondere den 1975 im Original erschienenen „Roman eines Schicksallosen“ erhielt, veränderte schließlich alles. Er bezog Quartier in der Charlottenburger Meinekestraße und genoss eine Berliner Freiheit, die ihm auch ein reiches klassisches Konzertleben zu bieten hatte.

"Gott hat die Welt erschaffen, der Mensch hat Auschwitz erschaffen"

Der Ton, den der junge Imre Kertész im „Galeerentagebuch“ anschlug, unterscheidet sich dennoch nur in Nuancen von den todesmüden Notizen der späten Jahre. Obwohl nicht von den Nackenschlägen des Alters die Rede ist, von Depression, Körperverkrümmung, Schlaflosigkeit und Impotenz, ist das „Galeerentagebuch“ von ebenso bitterer Klarheit. Ein Versuch, sich am Beispiel der eigenen Person Rechenschaft abzulegen über die metaphysische Verlassenheit des Menschen in der Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts. In ihr erkannte er den Möglichkeitsabgrund des Holocaust - ein Begriff, den er scheute und doch immer wieder benutzte. „Gott hat die Welt erschaffen, der Mensch hat Auschwitz erschaffen“, schrieb er in seinem Romantagebuch „Ich - ein anderer“. Deshalb hielt er es auch für keineswegs unmöglich, darüber zu sprechen. Er suchte nur nach einer Form, die sich nicht in billigem Moralismus erschöpft. Das „Galeerentagebuch“ erzählt auch davon, wie in den sechziger Jahren sein berühmtestes Buch, der „Roman eines Schicksallosen“ Gestalt annahm, jenes epochale Werk, das sich aus der Unschuldsperspektive eines ungarischen Jugendlichen mit Haut und Haar auf die innere Logik des Konzentrationslagers einlässt.

Der Ich-Erzähler Gyuri Köves erlebt seine Deportation als eine Art Abenteuerurlaub und schmiegt sich der Ordnung, die ihm entgegentritt, hoffnungsfroh und vertrauensvoll an. Die Schrecknisse um ihn herum sind für ihn schlimmstenfalls Unannehmlichkeiten, und der Alterungsschock, den er nach seiner Rückkehr im Spiegel gewärtigen muss, ist eine bloße Irritation. Dieser ganz und gar nicht erzwungen wirkende Perspektivwechsel war nach der Zeugenliteratur von Primo Levi ein Skandalon und seine Suggestionskraft eine Leistung, die sich auch nur durch die Fähigkeit zur Aufspaltung in Mensch und Figur erklären lässt. Denn Imre Kertész hatte, nicht anders als der polnische Schriftsteller Tadeusz Borowski, den er über alle Maßen schätzte, fast alles am eigenen Leibe erlebt. Im Juli 1944 verschleppte man ihn 14-jährig nach Auschwitz, um ihn anschließend ins Konzentrationslager Buchenwald und dessen Außenlager Wille zu bringen, bis er im April 1945 von amerikanischen Truppen befreit wurde.

Schicksal und Schicksallosigkeit

Im Exil der Sprache. Imre Kertész 2007 bei einer Basler Lesung aus seinem "Dossier K.".
Im Exil der Sprache. Imre Kertész 2007 bei einer Basler Lesung aus seinem "Dossier K.".

© Georgios Kefalas/dpa

Der Begriff der Schicksallosigkeit beschäftigte ihn dabei über das Buch hinaus. „Es war nicht mein Schicksal, aber ich habe es durchlebt“, gesteht der Erzähler im Roman. Der Diarist des „Galeerentagebuchs“ erklärte es so: „Was bezeichne ich als Schicksal? Auf jeden Fall die Möglichkeit der Tragödie. Die äußere Determiniertheit aber, die Stigmatisierung, die unser Leben in eine durch den Totalitarismus gegebene Situation, in eine Widersinnigkeit presst, vereitelt diese Möglichkeit: Wenn wir also als Wirklichkeit die uns auferlegte Determiniertheit erleben statt einer aus unserer eigenen - relativen - Freiheit folgenden Notwendigkeit, so bezeichne ich das als Schicksallosigkeit.“

Die Arglosigkeit, mit der Kertész seinen Protagonisten nach Buchenwald schickte, korrespondierte mit einem tiefen Misstrauen gegenüber der Verlässlichkeit von Sprache. Darin lag die spezifische Modernität seiner Literatur. Kertész verfügte über ein Wittgenstein verpflichtetes sprachkritisches Bewusstsein und ein an Albert Camus und Samuel Beckett geschultes Absurditäts- und Kontingenzverständnis, dem er sein eigenes hinzufügte: „Dass ich ,Ungar bin, ist um nichts absurder, als dass ich ,Jude bin, und dass ich ,Jude bin, ist nicht ein Stück absurder, als dass ich überhaupt bin.“

Darstellbar wurde dies für ihn alles erst durch ein Schreiben, das er als „atonal“ bezeichnete. Er suchte nach einem linguistischen Exil, das sich selbstverständlich nur innerhalb der Sprache finden ließ, doch im permanenten Aufbegehren gegen Konventionen tatsächlich so etwas wie einen eigenen Ort besetzte. „Vielleicht macht nicht irgendeine Begabung den Menschen zum Schriftsteller, sondern die Tatsache, dass er die Sprache und die fertigen Begriffe nicht akzeptiert“, vermutete er.

In seinen Sätzen war das Ich entmündigt

Es kann sein, dass die Leser seiner hervorragend lesbaren deutschen Übersetzungen (seit Christina Viragh mit ihrer Version des „Schicksallosen“ 1996 das Blatt der sorglosen Übertragungen wendete) davon nur die Hälfte mitbekommen. László F. Földényi weist in seinem großartigen „Imre-Kertész-Wörterbuch“ darauf hin, dass der Autor in seiner Syntax das ungarische Sprachempfinden oft verletze: „In der klassischen realistischen Prosa suggerieren die Sätze von vornherein, dass sich das Ich durchaus als Herr im eigenen Haus fühlen darf, Kertész Satzkonstruktionen zeugen demgegenüber davon, dass dieses Ich entmündigt worden ist. Die Sprache hat es entmündigt - genauer, die Sprache jener totalitären Diktatur, die nicht nur von den beiden großen totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts zur Vollkommenheit gebracht worden ist.“

Zugleich kann man sich gar nicht vorstellen, dass sich die Wirkung seiner kristallinen, schlackenlosen Prosa, die ein imposantes philosophisch-theologisches Denkgebäude überwölbte, nur im Original angemessen entfaltete. In der erschütternden Ungerührtheit, mit der Kertész auch die schmerzhaftesten Erfahrungen festhielt, im Pessimismus, den man aus den Romanen „Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind“, „Fiasko“ oder „Liquidation“ herauslesen mag, verbirgt sich auch das Gegenteil: eine Feier des Lebens, die mit dem rein menschlichen Privileg zur reflektierenden Selbstvergewisserung beginnt und mit den Tröstungen der Liebe, die Kertész nach dem Tod seiner ersten Frau Albina Vas im Jahre 1995 noch einmal mit der ungarischstämmigen Amerikanerin Magda Ambrus-Sass erlebte, keineswegs endet. </p><p>Nicht zuletzt für dieses in der Trauer erhebende Element seiner Bücher erhielt er den Literaturnobelpreis - eine Ehrung, die er durch die Unruhe, die sie in sein Leben brachte, bald als „Glückskatastrophe“ empfand. Er fühlte sich zum „Holocaust-Clown“ herabgewürdigt, empfand aber Genugtuung darüber, dass ihn nun auch die Ungarn, die ihn stets als Außenseiter behandelt hatten, anerkennen mussten. In dem großen Dialog, den er mit Zoltán Hafner in „Dossier K.“ führte, gibt er über die Wechselfälle seines Lebens Auskunft, die frühe Trennung der Eltern und das Leben im Internat.

Fast drei Viertel seines Lebens war er in Deutschland ein Unbekannter. Kertész war noch ein Gerücht, als wenige Jahre vor dem Aufgehen des Eisernen Vorhangs hierzulande schon Péter Esterházy, Péter Nádas und Miklós Mészöly das Bild der zeitgenössischen ungarischen Literatur prägten. Zu denen, die dieses Gerücht frühzeitig nährten, gehört die Genfer Kritikerin Eva Haldimann, die 1977 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ den „Roman eines Schicksallosen“ in einer Sammelrezension erstmals würdigte. Auf Deutsch brauchte es da noch 13 Jahre, bevor er in einer höchst zweifelhaften Übersetzung erscheinen konnte. Der als Buch erschienene Briefwechsel mit ihr ist ein Zeugnis von unverstellter Herzlichkeit, aus der sich Kertész Distanz zu Ungarn und die Annäherung an Deutschland nachvollziehen lässt.

Heimatgefühle und Alterssentimentalität

Seine Parkinson-Erkrankung brachte ihn 2012 nach Budapest zurück. Vielleicht kam aber auch eine Alterssentimentalität ins Spiel, die er sich unter anderen Umständen niemals gestattet hätte. 2014 nahm er aus der Hand des ungarischen Staatspräsidenten János Áder mit der Sankt-Stephans-Medaille die höchste Auszeichnung des Landes entgegen. Erst das rechtspopulistische Orbán-Regime hatte sie reaktiviert, nachdem sie zuletzt unter dem Hitler-Verbündeten Miklós Horthy verliehen worden war. Vielleicht regten sich in ihm aber auch Heimatgefühle, die er, wie die Lesefrüchte seine Tagebücher zeigen, zuvor literarisch ausgelebt hatte. Sein Lieblingsgedicht „Wagenfahrt bei Nacht“, das er auch in der „Letzten Einkehr“ zitiert, stammte von Endre Ady, dem großen Modernisten der ungarischen Lyrik. „Wie verwundet ist der Mond“, heißt es darin. „Diese Nacht, wie wüst sie ist und leer / Wie traurig ich heute bin, wie schwer / Wie verwundet ist der Mond. / Alles Ganze ist zerschellt“. Aus seiner langen Nacht hat Imre Kertész nun mit 86 Jahren den Ausgang gefunden.

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