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J. D. Salinger

© dpa

Nachruf: Die Welt ist mein Feind

Und der Schmerz des Erwachsenwerdens ist mein Freund. Zum Tod des amerikanischen Schriftstellers Jerome D. Salinger

Von Gregor Dotzauer

Irgendwann, von irgendwem, der ihm in den letzten Jahren nahe stand, werden wir vielleicht einmal mit Gewissheit erfahren, ob das schweigsame Leben, das Jerome David Salinger seit über einem halben Jahrhundert führte, sein eigentliches war, oder ob er heimlich der erzählerischen Kraft nachtrauerte, die ihn zwischen Anfang der fünfziger und Mitte der sechziger Jahre erfüllt hatte. All die feuilletonistischen Adressen, die den Schriftsteller noch zu seinem 90. Geburtstag am 1. Januar 2009 wie zu seinen runden Geburtstagen zuvor erreichten, waren in gewisser Weise schon Nachrufe. Was sie darüber hinaus zu berichten wussten, basierte zumeist auf Nachstellungen.

Salinger, dieser störrische, hoch aufgeschossene Kerl mit den flammenden Augenbrauen, den jüdischen und schottisch-irischen Wurzeln, hatte den Fehler gemacht, vier Bücher zu veröffentlichen, von denen mindestens eines, „Der Fänger im Roggen“, weltberühmt geworden war – das Gründungsdokument einer Popliteratur avant la lettre. Die Geschichte des 16-jährigen Holden Caulfield, der von seiner vermasselten Internatskarriere und einer tiefen Adoleszenzkrise erzählt, erfasste mit äußerster Lakonie, wie man am Dilemma zerbrechen kann, die Kindheit hinter sich lassen zu müssen, zugleich aber um keinen Preis der Erwachsenenwelt und ihrer heuchlerischen phoniness angehören zu wollen.

Schlimmer als der Ruhm selbst wurde für Salinger nur die Absolutheit, mit der er sich nach der Flucht aus seiner Geburtsstadt New York 1953 der öffentlichen Neugier zu entziehen versuchte. Sie wandte sich gegen ihn, wenngleich sie auch seinen nicht ganz so berühmten Büchern, den beiden Geschichten über „Franny und Zooey“ oder den „Neun Erzählungen“ – darunter auch die legendäre Story „Ein herrlicher Tag für Bananenfisch“ – zu langem Leben verhalf.

Salingers Geschichten waren alle im selben, fast fatalistischen Universum angesiedelt: moralisch zwischen dem drohenden Verlust der Unschuld und dem Verrat an den eigenen Idealen, personell zwischen den Mitgliedern der Familie Caulfield und der Familie Glass. Bei allem Witz haben sie oft auch eine gewisse Brutalität: Am Ende des „Bananenfischs“, inmitten seiner Flitterwochen, erschießt sich Seymour Glass. Das Gespräch mit einem kleinen Mädchen hat ihm vor Augen geführt, dass er alle Chancen auf ein naives Leben verwirkt hat.

Ob sich Salinger dem Literaturbetrieb aus moralischen Gründen verweigerte oder aus einer schweren Neurose heraus – er nahm sich einfach das Recht heraus, den Heimsuchungen der feindlichen Medienwelt zu trotzen. In Cornish, New Hampshire, dem kleinen Ort, in dem er wohnte, war man klug genug, ihm nicht auf die Nerven zu gehen. Die Bewohner hätten auch gut daran getan, Fremde zu warnen, den Weg in das Tal zu suchen, in dem sein rot gestrichenes Cottage lag. Wenn Salingers Paranoia nicht von seiner nachlassenden Kraft gezähmt worden wäre, hätte er Eindringlinge wohl mit der Pumpgun begrüßt. Dennoch verging kein Jahr, ohne dass sich ein Journalist vornahm, zu Salinger vorzudringen. Und weil alle Jubeljahre jemand mit einer Trophäe aus den Wäldern Neuenglands zurückkehrte, musste Salinger erst sterben, damit die Jagd ein Ende fand. Seit Mittwoch hat er diesen Frieden. Viel Neues gab es ohnehin nie in Erfahrung zu bringen. Das Bekannte ließ sich jedoch mit derselben Lust wiederholen, mit der die nachwachsenden Generationen sich auf sein Werk stürzten: Gemessen am Gros der über uns hereinbrechenden Coming-of-age-Literatur, ist es kaum gealtert. Wie oft kommt es vor, dass sich William Faulkner, Hermann Hesse und Madonna über einen Autor einig sind? Antiquiert war bis vor einigen Jahren nur die deutsche Version des „Fängers“.

Heinrich Bölls kosmetisch verschönerte Fassung einer Übersetzung von Irene Muehlon spiegelte schon lange nichts mehr von der rotzigen Ironie des Romans. Eike Schönfeld hat ihn nun in eine Gegenwart zurückgeholt, in der man immerhin in den Plattenladen geht statt ins Grammophongeschäft. Junge Leser dürften durch die Vertrautheit mit dem amerikanischen Alltag Holden Caulfields Lebensgefühl heute sogar näher sein als vor fünfzig Jahren: dem verlorenen, zwischen Kinos, Bars und Hotelzimmern angesiedelten Dasein, aus dem einen höchstens die Liebe oder eine ordentliche Affäre retten könnte, wenn das mit den Mädchen nicht so schwierig wäre.

Was war in Cornish zu holen? Betty Epps konnte sich einmal mit einem 20-minütigen Gespräch für die „Paris Review“ brüsten, in dem Salinger auf den Veröffentlichungszwang flucht. Es kursiert die eine oder andere Paparazzo-Aufnahme, die Salingers physische Existenz bewies. Im Großen und Ganzen gelang es seiner dritten, vierzig Jahre jüngeren Frau Colleen O’Neill aber, ihn abzuschotten. Immer, wenn jemand die Geheimnummer der Salingers herausgefunden hatte, erklärte sie, nein, es sei unmöglich, mit ihrem Mann zu telefonieren. Dafür ist das Leben vor seinem Rückzug mittlerweile gut erforscht. Im mittelfränkischen Gunzenhausen entdeckte die 85-jährige Wirtschafterin Hedwig Kugler erst im letzten Jahr, dass der GI Salinger Anfang 1946 ihr Vorgesetzter war.

Salingers Versuch, seine öffentliche Existenz jenseits der Bücher auszulöschen, wurde jedes Mal begierig als neues Lebenszeichen des Verschollenen wahrgenommen. Tatsächlich hat er sich nach dem Ende seiner Buchveröffentlichungen vor allem durch juristische Klagen einen Namen gemacht. Er stritt sich mit seinem Biografen Ian Hamilton über das Zitieren unveröffentlichter Briefe. „Auf der Suche nach J.D. Salinger“ konnte daraufhin erst 1988 erscheinen, mit den fraglichen Stellen in Paraphrase. Mit donquijoteskem Furor nahm er aber auch den Kampf gegen das Internet auf.

Mitte 1996 erreichte eine Mail seiner Agentur Harold Ober & Associates alle Betreiber von Salinger-Websites mit der Aufforderung, sämtliche Zitate zu entfernen. Das Unterfangen blieb nur eine Weile von Erfolg gekrönt. So findet sich nicht nur „Hapworth 16, 1924“, Salingers 1965 als letzte öffentliche Prosaäußerung überlieferte Geschichte aus dem „New Yorker“, gleich mehrfach im Netz. Er legte sich 1995 mit dem iranischen Filmregisseur Dariush Mehrjui an, der mit „Pari“ eine freie Variation von „Franny and Zooey“ gedreht hatte. Sie durfte in den USA nicht gezeigt werden. Überhaupt gibt es heute keine Verfilmung eines Salinger-Textes. Er wusste sie alle zu verhindern. Nur die Biografen konnte er auf Dauer nicht im Zaum halten. So veröffentlichte etwa Joyce Maynard „Tanzstunden. Mein Jahr mit Salinger“ (Piper), einen Bericht über ihre neunmonatige Affäre mit J.D. Salinger.

1972 war Maynard eine hübsche Yale-Studentin, die unter dem Titel „An 18-Year-Old Looks Back On Life“ gerade eine Coverstory im „New York Times Magazine“ geschrieben hatte, die ihr eine Flut von Zuschriften bis hin zum Heiratsantrag einbrachte. Auch in Salinger brachte sie eine Saite zum Klingen. Anfangs ganz Mentor, wandte er sich mit einem Brief an sie und förderte die Leidenschaft so nach Kräften.

Einerseits war Maynards Verbindung mit Salinger nur die Schwärmerei eines unerfahrenen Mädchens, die Ende der achtziger Jahre eine missglückte Ehe, drei Kinder und mehrere Katastrophen später, mit der Enttäuschung ihres Lebens fertigwerden wollte. Andererseits bietet ihr Buch Einblicke in den Gefühlshaushalt eines 55-jährigen Mannes, dessen Charme mehr und mehr einer unerträglichen Griesgrämigkeit wich. Auch die Rituale des Diät-Maniacs, der zum Frühstück gefrorene Erbsen verspeist, halb gares Lammfleisch isst und mit homöopathischen Mitteln hantiert, werden beleuchtet. „Aus welchem Grund auch immer“, erklärt Joyce Maynard, „war er ein Mann, der sich so ziemlich jedes Vergnügen versagte.“ Das gilt auch für sein trampelhaftes Verhalten in Sachen Sex.

Böser meinte es mit ihm nur noch seine Tochter Margaret A. Salinger aus der Ehe mit Claire Douglas. In ihrem Memoir „Dream Catcher“ beschreibt sie die esoterischen bis okkulten Neigungen ihres Vaters – sichtlich die Rache eines vernachlässigten Kindes. Man muss das alles nicht wissen, weil es zum größten Teil schlecht geschriebene Kolportage ist. Wenn es ein Licht auf Salingers Bücher wirft, die Schriftsteller wie John Updike und Joan Didion einst als Wohlfühlliteratur für die amerikanische Mittelklasse durchaus kritisierten, so ist jetzt die Stunde gekommen, das alles beiseitezuschieben und sich allein auf sein schmales Werk einzulassen, das jenseits des „Fängers“ immer noch zu wenig Leser hat. Hat er von diesem Moment nicht immer geträumt?

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