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Morrissey verwöhnt mit alten Smith Songs, neuen Solotracks, brachialem Rock und luftigem Gitarrenpop.

© dpa

Morrissey-Konzert im Tempodrom: Eine Brachialkur mit Moralkeule

Mit einem gewaltigen Gongschlag beginnt das Morrissey-Konzert im Tempodrom: darauf folgt flehender Schmerzgesang, hypnotischer Lärmgroove - und auch ein paar romantische Evergreens.

Von Jörg Wunder

Bei einem ganzheitlich denkenden Musiker wie Morrissey ist es aufschlussreich, was dem wartenden Publikum vor dem Konzert dargeboten wird. Im Tempodrom sind es nicht nur Videos von rebellischen Pop-Ikonen wie den Ramones, Sex Pistols oder Alice Cooper, dessen „Elected“ von 1972 wie eine Vorahnung der Trump-Kampagne wirkt, sondern auch Obskures: laszive Flamencotänzer, eine Dichterlesung, ein Auftritt von Morrisseys erklärter Lieblingsband New York Dolls im deutschen TV-„Musikladen“, wegen ihrer „unmännlichen“ Bekleidung süffisant anmoderiert von Manfred Sexauer.

Dann endlich ein gewaltiger Gongschlag von Drummer Matt Walker, da kommt der 57-Jährige federnden Schrittes auf die Bühne, verbeugt sich, begrüßt die Fans mit der obligatorischen verbalen Demutsgeste, und schon ist man mittendrin in „Suedehead“, Morrisseys erster Single, erschienen 1988 kurz nach dem Ende der Smiths.

Dass Morrissey eine schwere Erkrankung hinter sich hat, hört man nicht: Seine Stimme klingt so fest und geschmeidig wie gewohnt. Fast glaubt man, er müsse sich und seinen Fans etwas beweisen, mit solcher Verve stürzt er sich in die Stücke. Und doch hat sich sein Habitus verändert. Der zu Smiths-Zeiten zierliche Gladiolenfreund hatte im Lauf der Jahre eine so bullige Körperlichkeit entwickelt, dass man ihn bei eventuellen Kneipenschlägereien gern auf seiner Seite gewusst hätte. Nun aber schimmert Verletzliches durch, signalisieren schmaler gewordene Gesichtszüge Vergänglichkeit.

Hypnotischer Sound, schockierende Bilder

Von seiner Kampfeslust hat er indes nichts eingebüßt. „No Trump, no Clinton, no election“, skandiert er, ehe Multiinstrumenatlist Gustavo Manzur mit mannsgroßem Didgeridoo das programmatische „World Peace Is None Of Your Business“ von Morrisseys letztem Album anstimmt. Politiker sind nur ein Angriffsziel im Morrissey-Weltbild: Zu „Ganglord“ werden Aufnahmen von polizeilichen Gewaltexzessen gezeigt, vor „The Bullfighter Dies“ erzählt er mit unverhohlener Schadenfreude, wie er vom Tod des Toreros Víctor Barrio erfahren habe.

Das vom Menschen geschundene Tier ist die wichtigste Agenda des bekehrenden Vegetariers. Und „Meat Is Murder“ ist die wohl heftigste Erschütterung, die einem im Rahmen eines Popkonzerts widerfahren kann. Das schroffe Stück ist seit seiner Entstehung 1985 immer monströser geworden, weil auch das Thema in Zeiten weltweit steigenden Fleischverzehrs immer monströser wird. Vor der Projektion schwer erträglicher Bilder aus der Tierverwertungsindustrie und zu Morrisseys flehendem Schmerzensgesang entfesselt die fünfköpfige Band einen hypnotisch stotternden Lärmgroove. „Meat Is Murder“ ist ein Monument der Empathie mit der unterdrückten Kreatur, darin nur der unerhörten Schlachthauspassage in Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ vergleichbar.

Auch leichtere Kost

Zum Glück schwingt Morrissey aber nicht nur die Moralkeule, sondern hat auch leichtere Kost auf der Setlist wie das romantische „Everyday Is Like Sunday“, „Kiss Me A Lot“ oder den wunderbaren Smiths-Song „What She Said“ – leider der letzte aus dem Repertoire dieser wohl zweitwichtigsten Gruppe der britischen Popgeschichte. Morrisseys eigene Band klingt mittlerweile wie eine Antithese zu den Smiths. Wurde sein Gesang damals auf luftige Gitarrenpop-Arrangements gebettet, so kämpft er nun im brutal lauten Bühnensound lustvoll gegen die verzerrten Gitarren von Jesse Tobias und Boz Boorer an und lässt sich von wüsten Bass-Schlagzeug-Attacken durchmassieren.

Wer die filigraneren Studioversionen mag, könnte sich mit der Brachialkur schwertun. Andererseits generiert die konzertante Wucht eine Intensität, die das enthusiastische Publikum nach anderthalb Stunden und nur einer Zugabe, dem hymnischen „Irish Blood, English Heart“, ohne nennenswerten Protest aus dem Saal strömen lässt.

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