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Leben ohne Dübel. Michael Rutschky vor seinem Orangenkisten-Regal.

© Thilo Rückeis

Zum Tod von Michael Rutschky: Der Mann, der das Soziotop erfand

Michael Rutschky war ein Meister des teilnehmenden Beobachtens. Anlässlich seines Todes erinnern wir an diesen Besuch in seinem Kreuzberger Arbeitszimmer vor fünf Jahren.

Im Arbeitszimmer von Michael Rutschky hängt ein Foto, das den Soziologen, Romancier und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer zeigt. Und gleich daneben, umgeben von Postkarten, Lithografien und einer Kinderzeichnung, ein altes Kinoprogramm des Films „20 000 Meilen unter den Meeren“ mit James Mason. Kracauer ist gewissermaßen der Hausheilige, mit seinen eleganten Feuilletons und seiner auf jeden Jargon verzichtenden Prosa ein Vorbild für Rutschky. Und James Mason, der in der Jules-Verne-Verfilmung aus dem Jahr 1954 den wahnsinnigen Kapitän Nemo spielt? Ein Nebenheiliger. Mason, sagt Rutschky, sei ein „toller bad guy“ gewesen, als Nemo, in Hitchcocks „North by Northwest“ oder als Brutus in „Julius Caesar“. Schon schwärmt er davon, wie er vor fast 60 Jahren mit seiner Patentante in einem weißen Mercedes nach Kassel fuhr, um „20 000 Meilen unter den Meeren“ zu gucken. In Cinemascope.

Michael Rutschky, der am heutigen Samstag 70 wird, hat Soziologie studiert, über die „Lektüre der Seele“ unter anderem bei Freud promoviert und zwei Dutzend Bücher veröffentlicht. Seine Texte changieren zwischen Literatur, Journalismus und Wissenschaft, es fällt schwer, für seine Profession einen Begriff zu finden. Wie würde er sich selber bezeichnen? „Lieber gar nicht“, sagt er. Ist er Schriftsteller? „Wenn man Schriftsteller sagt, wird man gleich nach dem letzten Roman gefragt.“ Und mit Romanen kann er nicht dienen. Zumindest nicht mit Romanen im strengen literaturwissenschaftlichen Sinn. Aber es gibt Rutschkys schönen Band „Lebensromane“, eine Sammlung von Essays, in denen er den Selbstmord seiner Tante auf Capri als „Desillusionsroman“ deutet, Heldentaten von Jungmenschen als „Ritterroman“ schildert und in der Erzählmaschinerie der Boulevardpresse und des Privatfernsehens den guten alten „Schauerroman“ entdeckt.

Oft ironisch, manchmal hochkomisch

Rutschky ist ein Meister der Beiläufigkeit und der gezielten Abschweifung, er lässt den klassischen Ich-Erzähler, reale Personen und erfundene Figuren auftreten, ist oft ironisch und manchmal hochkomisch. Seit er 1980 mit dem Buch „Erfahrungshunger“, einem Großessay über die von ideologischen Kämpfen verdunkelten siebziger Jahre, Aufsehen erregte, arbeitet er an einer großen, sehr persönlichen Chronik der laufenden Ereignisse. „Wartezeit“ handelte von der „Zeitgeistitis“ der Achtziger. Nach 1989 unternahm der Autor staunende Reisen durchs „Beitrittsgebiet“. Derzeit erzählt er in seinem Blog „Das Schema“ von seiner Zeitungslektüre und der nächtlichen Traumarbeit. Aus der soziologischen Technik des teilnehmenden Beobachtens hat Rutschky eine Kunstform gemacht.

Auf gewisse Weise setzt er das Erbe seines Großvaters Max Missmann fort. Missmann hatte im Berlin der Kaiserzeit ein „Photographisches Institut für Architektur, Industrie und Illustration“ gegründet und mit seiner Plattenkamera ganze Straßenzüge der Vorkriegsmetropole dokumentiert. „Bilder sind wichtig“, sagt Rutschky. „Man sollte sich nicht allein auf Worte verlassen.“ Deshalb hat er auch ein paar Videofilme fürs Fernsehen gedreht. Und er fotografiert. Seine Aufnahmen nennt er grinsend „Straßenfotografie, die manchmal auch in Innenräumen entsteht“. Ein 1986 veröffentlichtes Fotoalbum folgte dem Motto „Wer durch das Kamera-Auge schaut, ist schon draußen und auf Reisen“. Zuletzt zeigte die Berliner Galerie Dreher Ende 2012 eine Auswahl der meist schwarz-weißen Bilder.

Michael Rutschky wurde am 25. Mai 1943 in Berlin geboren und wuchs in Spangenberg auf, einem nordhessischen Fachwerkstädtchen. An seine Studienjahre, die er in Frankfurt am Main, Göttingen und an der Berliner FU verbrachte, erinnern nicht nur die Bücher im Regal seines Kreuzberger Arbeitszimmers, sondern auch das Regal selber. Es besteht aus Orangenkisten, die sich mit der Zeit ansammelten, nachdem Michael Rutschky und seine Frau Katharina 1967 zwei Kellerräume am Botanischen Garten in Steglitz bezogen hatten. Damals waren Orangenkisten noch aus solidem Holz, „sehr praktisch, man stapelt sie übereinander und muss sie nicht mal verdübeln“, sagt Rutschky.

Einst hörte er Vorlesungen bei Adorno

Diese freie, dübellose Konstruktion könnte man auch als Symbol für Rutschkys Leben und Werk nehmen. Zumal die Bände von Adorno, bei dem der junge Rutschky einst Vorlesungen hörte, in der Bücherwand eine friedliche Koexistenz mit Romanen von Autoren wie Rainald Goetz oder David Wagner führen, die Rutschky später als Redakteur der Zeitschriften „Transatlantik“, „Merkur“ und „Der Alltag“ fördern sollte. Rutschky hat Spuren hinterlassen, einige seiner Wortprägungen sind zu festen Begriffen geworden: Grußarbeit, Prunkzitat, Meinungsfreude.

Die Formel Soziotop, eine Analogiebildung zu Biotop, schaffte es sogar in den Duden. Rutschky hat sie zusammen mit seiner im Jahr 2010 verstorbenen Frau Katharina entwickelt und zum ersten Mal 1982 im Suhrkamp-Sammelband „Errungenschaften“ verwendet. Bereits der Titel war eine Provokation. „Ein positives Buch, das war damals natürlich verboten“. Mit dem Pochen auf diese „Errungenschaften“ wollte der Herausgeber Rutschky „etwas gegen den Glauben an den universellen Schuld- und Verblendungszusammenhang unternehmen“. Er ist durchaus selber ein 68er, aber die Radikalität der Hardliner von 1968 ff. hält er für religiösen Wahn.

Mit seinem Erinnerungsband „Das Merkbuch“ hat Rutschky im letzten Jahr seinem Vater, der Wirtschaftsprüfer war, ein anrührendes Denkmal gesetzt. Gerade überarbeitet er Tagebucheinträge, daraus könnte das nächste Buch werden. „Große Gesellschaften machen mich nervös“, sagt Rutschky. Deshalb hat er seinen Geburtstag schon seit Jahrzehnten nicht mehr gefeiert. Seinen 70. Geburtstag verbringt Rutschky in Tiflis, wo er einen Vortrag im Goethe-Institut halten wird. Es geht um aktuelle Beobachtungen in Berlin, der Titel lautet: „Museum ist überall“.

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