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Meret-Oppenheim-Schau im Berliner Gropius-Bau: Die Schamanin

Meret Oppenheim zum 100.Geburtstag: Der Gropius-Bau feiert die große Surrealistin und Künstlerin, die jede Generation aufs Neue für sich entdeckt.

Schon das Mädchen besaß einen Hang zur Renitenz. Als 17-Jährige machte sie in ihrem Mathematikheft eine etwas andere Gleichung auf: X = Hase. Daneben platzierte sie zur „Probe“ nochmals das Tier, nun auf den Kopf gestellt. Diesmal lautete das Ergebnis: Hase = Sahnebeutel. Das war’s dann mit dem Unterricht. Die junge Oppenheim überreichte ihrem Vater das Heft zunächst als Geschenk (später wurde ein Multiple daraus) und kehrte nicht mehr auf die Schulbank in Basel zurück, wo die Familie lebte. Der Herr Papa bekam einen Schreck und schickte die Tochter zum Arzt, dem befreundeten Doktor C. G. Jung.

Der Psychologe wiederum beruhigte nach Konsultierung den besorgten Vater in einem Brief. Das Mädchen habe eine starke Fantasie und werde sich aber alsbald wieder an den Realitäten orientieren, versprach er. Wenn Jung nur gewusst hätte, wie es wirklich mit dem „Meretlein“ weiterging. Die junge Rebellin befand sich bereits in Paris, wo sie 1933 zum Kreis der Surrealisten stieß, der bekanntlich recht wenig auf sichtbare Wirklichkeiten gab.

Ein Heft, ein Brief – das ist der Auftakt einer fulminanten Schau im Martin-Gropius-Bau zum 100. Geburtstag von Meret Oppenheim. Nicht dass sie vergessen wäre in ihrer Geburtsstadt Berlin, wie bei es bei Retrospektiven gerne legitimierend heißt. 1984, ein Jahr vor ihrem Tod, wurde die Heroine der Moderne hier mit einer Ausstellung gewürdigt, 1982 hatte sie den Großen Preis der Stadt Berlin erhalten und war Mitglied der Akademie der Künste geworden. Und doch scheint jede Generation diese Künstlerin für sich neu entdecken zu wollen.

Oppenheim ist die Grande Dame der Gender-Kunst

Sie hat es an sich selber erlebt: ein sagenhafter Karrierebeginn in Paris als Surrealistenmuse, berühmt geworden durch die Aktfotos von Man Ray, der sie an einer Druckerpresse zeigt, und als Erschafferin jener „Tasse im Pelz“, die bis heute als Signet des Surrealismus gilt. 1938, fünf Jahre später, Rückkehr in die Schweiz, dem Zufluchtsort der Familie vor den Nazis, sie stürzt in eine Schaffenskrise. Erst nach 17 Jahren kommt die künstlerische Kraft zurück, mit umso mehr Ideen und Sprachgewalt. Aus dem Meretlein, wie auch der einstige Geliebte Max Ernst sie gönnerhaft nennt, wird die Grande Dame der Gender-Kunst, die sich fortan erst recht ihre Freiheit nimmt. Ihre Dankesrede 1975 zur Preisverleihung der Stadt Basel wird zum feministischen Fanal in einer von Männern dominierten Welt der Kunst.

Das Œuvre der Meret Oppenheim teilt sich nicht nur in verschiedene Zeiten, Orte, Stimmungen, es scheint selber aus Brüchen, Widersprüchen zu bestehen. Wüsste man nicht besser, dass die 200 Arbeiten der Schau aus einer Hand stammen, würde man lauter verschiedene Künstler am Werk vermuten: Malerinnen, Bildhauerinnen, Schmuck- und Modedesignerinnen, Dichterinnen. Intuitiv wie im Traum zieht es die Künstlerin zu verschiedenen Ufern hin. Umso weniger erstaunt es, dass eine Grundlage ihres Schaffens tatsächlich die Traumdeutung ist. Nächtliche Szenen, Sternenbilder, Lichtgestalten, wabernde Nebel tauchen in ihren verschlüsselten Gemälden immer wieder auf. Arbeitet sie als Bildhauerin, besticht die Objekthaftigkeit ihrer Werke, die eine Kraft des Archetypischen ausstrahlen. „Die alte Schlange Natur“ (1970), zusammengesetzt aus lauter Anthrazit, kringelt sich auf einem Jutesack, das „Gespenst mit Leintuch“ (1962) erinnert an eine Totemmaske.

Die Künstler träumen für die Gesellschaft, hat sie einmal gesagt

Oppenheim weiß genau, wie sie mit Schlüsselreizen spielen kann. Das Stiefelettenpaar (1956), das vorne unlösbar verbunden ist, oder jene Handschuhe aus Pelz (1936), die den Blick auf lackierte Fingerspitzen freigeben, sind eindeutig sexuell konnotiert. Die berühmte „Tasse im Pelz“ (1936) war nur ihr erster Streich, dessen Genialität Alfred Barr, Direktor des Museum of Modern Art in New York, sogleich erkannte und sofort aus der Ausstellung der Pariser Galerie Ratton erwarb. Bis zuletzt kämpfte die Künstlerin dagegen an, auf diesen ersten Coup reduziert zu werden. So verwahrte sie sich auch dagegen, das Objekt als Multiple freizugeben. Prompt fehlt in der Berliner Schau das legendäre Unikat, das sich bis heute im MoMA befindet und verständlicherweise ausgerechnet im Jubiläumsjahr der Erschafferin nicht ausgeliehen wird. Stattdessen ist nur die Edition einer Fotografie von 1971 zu sehen, die Man Ray damals von der Tasse machte – als Popart-Poster auf quietschrosafarbenem Grund in Anspielung auf Andy Warhol, der die Verbreitung von Ikonen auf die Spitze trieb.

Zeitlebens wehrte sie sich außerdem dagegen, Projektionsfläche der Fantasien anderer zu sein und ausschließlich mit jenem enigmatischen Aktporträt von Man Ray identifiziert zu werden. Aus der eigenen Identitätssuche aber schlug Meret Oppenheim indes künstlerisches Kapital. Wer bin ich, wer werde ich einst sein?, fragt sie schon als junges Mädchen und zeichnet ein Selbstporträt von sich als alte Frau, in dem ihr hageres, prägnantes Antlitz im hohen Alter recht genau getroffen ist. Eine schöne Frau mit raspelkurzem grauen Haar bleibt sie bis zuletzt, die dem Jenseits humorvoll trotzt. Eine Röntgenaufnahme aus dem Jahr 1964 zeigt sie im Profil; nur Knochen sind zu sehen sowie Schmuck um Hals, Finger und an den Ohren. „1913–2000“ steht als Lebensspanne darunter. Oppenheim gibt sich als Seherin, als Schamanin, die in die Zukunft blickt – auch auf jenem fotografierten Selbstporträt von 1980, auf das sie nachträglich farbliche Tätowierungen gedruckt hat. „Es sind die Künstler, die träumen für die Gesellschaft“, hat sie einmal gesagt.

Mit ihrer Kunst setzte sie sich zur Wehr. „Bon appetit, Marcel“, heißt ein bitterböser künstlerischer Kommentar von 1966 auf den einstigen Geliebten und leidenschaftlichen Schachspieler Duchamp. Auf einem Schachbrett wird ein Teller serviert, darauf die Schachkönigin aus Brotteig, in deren Leib eine Wirbelsäule gedrückt ist. Auch Max Ernst bekommt den späten Zorn der Freundin zu spüren. „Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich“ betitelte sie 1934 ihre Hommage an den Liebhaber. 51 Jahre später nahm sie sich das Abschiedswerk noch einmal vor und bediente sich daraus für einen Schmuckentwurf. Der letzte Gruß an den verflossenen Freund, nur noch Zierwerk.

Martin-Gropius-Bau, Stresemannstraße 50, bis 1. 12.; Mi bis Mo 10 – 19 Uhr. Katalog (HatjeCantz) 25 €.

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