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Matthäus-Passion: Jesus in Block E

Szenisches Ritual: Peter Sellars, Simon Rattle und die Matthäus-Passion in der Philharmonie Berlin.

Eigentlich ist dieser Abend ein doppeltes Unding. Bachs Matthäus-Passion exakt eine Woche nach Karfreitag aufzuführen, dazu gehört einige Chuzpe und Ungerührtheit. Als sei Bachs Musik eben nur Musik. Die eigene Kapazität zum Mitfühlen und -leiden jedenfalls zeigt sich rechtschaffen aufgebraucht. Kaum haben sich die Kirchen Christi Auferstehung durch die Fährnisse aller Missbräuche und Skandale hindurchmanövriert, da soll schon wieder (glaubhaft) gedemütigt und gelitten, gekreuzigt, gestorben und beweint werden? Schwierig.

Und dann trägt sich das Ganze auch noch semi-szenisch zu, „ritualisiert“, wie Regisseur Peter Sellars es nennt, als sei ihm Bachs Musik wiederum nicht ergreifend, nicht dramatisch genug. Chor und Orchester agieren in der Philharmonie geteilt (was der Partitur entspricht), während die Solisten knien, kauern, bäuchlings, rücklings auf dem Podium liegen oder frei umherschweifen. Gerne fassen sie sich dabei an (zu „Buß und Reu“ etwa wird der Evangelist von der Altistin massiert, zu „Können Tränen meiner Wangen“ schöpft sie pantomimisch Blut von seinem Rücken) oder schauen sich tief in die Augen. Oder grüßen, wie Jesus, einsam aus Block E links. Muss das alles sein, fragt man sich, und wird den Verdacht nicht los, dass man es hier mit einem so esoterischen wie amerikanischen Konzept von Armem Theater, von Abstraktion und Demut zu tun hat.

Und dennoch: Wenn schon zu weltlicher Zeit an weltlichem Ort, wenn schon die Passion als Passionsspiel, dann so! Wirklich peinlich, das muss man Sellars lassen, wird es nie. Eine Glühbirne von der Saaldecke, ein hellhölzerner Sarkophag (oder Altar) in der Bühnenmitte, ebensolche Sitzwürfel über die ganze Bühne verteilt – das genügt, um den Raum zu skizzieren. Sänger wie Instrumentalisten tragen schwarze Privatkleidung, einzig die beiden Frauen müssen aus unerfindlichen Gründen barfuß gehen: Die hochschwanger sich mühende schwedische Sopranistin Camilla Tilling und Magdalena Kozena, deren dauergehetzter Löwengruben-Blick der Emphase ihres Mezzos leider etwas abträglich ist. Um wie viel stärker würde das „Ach“ wirken, mit dem sie in „Ach, nun ist mein Jesus hin“ an der Rampe buchstäblich vergeht, wenn es nicht per se unter solchem Ausdrucksdiktat stünde. Und um wie viel schockierender noch wären ihre lasziven Tanzschritte in der von den beiden begnadeten philharmonischen Englischhornisten Dominik Wollenweber und Andreas Wittmann begleiteten Arie „Sehet, Jesus hat die Hand, uns zu fassen, ausgespannt“.

Überhaupt sind die Instrumentalsolisten ein Erlebnis. Daniel Stabrawas seidiges Violinsolo in der „Erbarme dich“-Arie gehört zum Schönsten, was ein Geiger auf seinem Instrument hervorzubringen vermag, und wenn Hille Perl (als Gast) zur Gambe greift, dann sorgt nicht nur der Gothic Look der Virtuosin für Aufsehen. Gegen solche Souveränität müssen sich Christian Gerhaher als lyrisch betonter Jesus, Thomas Quasthoff mit den Bass-Arien und Mark Padmore als sehr britisch-beseelter Evangelist immer wieder neu behaupten. Der finnische Tenor Topi Lehtipuu hingegen sollte sein feines Material noch etwas besser austarieren.

Die Stars dieser dreieinhalb Stunden aber sind die gleißend hell und lungenkräftig intonierenden Knaben des Staats- und Domchors Berlin (Einstudierung Kai-Uwe Jirka) sowie der von Simon Halsey grandios präparierte Rundfunkchor. Die berüchtigten Chaosstellen etwa in „Ja nicht auf das Fest“ oder in den Kreuzigungsrufen gelingen auf eine Weise durchsichtig und frei, ja aus der Erregung heraus fast improvisatorisch, dass man nur mehr staunt. Und in ein fahleres, zarteres, gespenstischeres Pianissimo wurde der Choral „Befiehl du deine Wege“ kaum je getaucht.

Die Matthäus-Passion gilt als „Oratorium im Operngewand“, um ein Wort Hans von Bülows abzuwandeln. Für Konflikte, Spannung, Perspektivenwechsel ist gesorgt. Dass Simon Rattle und die Philharmoniker daraus keine falschen, übertheatralischen Schlüsse ziehen, macht die Aufführung sympathisch. Stets bleibt das Klanggeschehen lebendig bewegt und im Fluss, die Tempi atmen, die Dynamik auch, halb von den Erkenntnissen musikalischer Rhetorik inspiriert, halb einem Espressivo-Stil geschuldet, den man bei Rattle gar nicht vermuten würde. Dass er diese beiden Pole funkenschlagend zusammen zwingt, ist, etwas versteckt, das eigentliche Ereignis dieser Passion.

Noch einmal heute, 19 Uhr (ausverkauft). Das Konzert wird live in der Digital Concert Hall übertragen: www.berliner-philharmoniker.de

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