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Parlamentsputz. Zu irgendeinem Gedenktag soll der Saal gereinigt werden, ohne Staub dabei aufzuwirbeln.

© Bernd Uhlig/Staatsoper

Marthalers „Letzte Tage“ im Schillertheater: Geisterbeschwörung durch die Macht der Musik

Christoph Marthaler zeigt im Schillertheater seine Musikcollage „Letzte Tage. Ein Vorabend“. Es geht um Fremdenhass und Antisemitismus, montiert mit Texten von der k.u.k. Monarchie bis ins heutige Ungarn.

Sollte es der Versuch eines Kontrapunkts werden oder war dieser Start in die Berliner Klassiksaison nur das Ergebnis holpernder Terminplanungen? Während in der Philharmonie das Musikfest mit Barenboims Brahms beginnt, öffnet die Staatsoper vor dem offiziellen Spielzeitstart für Christoph Marthaler und seinen schreiend leisen Musikabend „Letzte Tage. Ein Vorabend“. 2013 kam er in Wien heraus, als Theater gewordene Auseinandersetzung mit einem Ort, der nunmehr Relikt ist und die meiste Zeit verlassen daliegt, während die Stimmen der Vergangenheit in ihm nachhallen. Marthaler inszenierte mit „Letzte Tage“ auch den historischen Saal des Wiener Parlamentsgebäudes, setzte seine Schauspieler und Musiker in die Reihen, die einst die Abgeordneten von der Bukowina bis Dalmatien aufnahmen. Karl Kraus, auf dessen Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ Marthalers Titel anspielt, folgte oft fassungslos den Sitzungen: „Wie? Und der Staat, in dessen Parlament diese Rede gehalten wurde, sollte nicht krepieren?“

Der historische Ort ist in Wien geblieben, die Reden sind mitgekommen ins Schillertheater, in dem alles für Marthaler verdreht wird. Die Zuschauer nehmen auf einer die Bühne überragenden Tribüne Platz und blicken mit sanftem Schrecken ins Theatergestühl. Dort hat sich einiges gelockert, Sitze hängen schief, Plastikplanen verhüllen den Rang, mittendrin ragt ein Baugerüst auf. Das Ganze eine Baustelle, in Berlin eine überstrapazierte Metapher, die obendrein den Wiener Parlamentssaal darstellen soll. Sperrig lässt sich das an, wäre da nicht dieser unsichtbar wandernde Klavierklang, der den Ort einnimmt, für sich. Zu irgendeinem Gedenktag soll der Saal gereinigt werden, ohne Staub dabei aufzuwirbeln. Die Raumpflegerinnen interessieren sich ohnehin nur für ihre Krampfadern, bis ein Festredner den Kaiser von Habsburg-Europa begrüßt und bemerkt, dass der Antisemitismus längst als hervorragende europäische Eigenschaft zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurde wie zuvor die Demokratie.

Marthaler träufelt rhetorisches Gift - ganz langsam

Es ist die einzige fiktive Rede des Abends, kurz darauf wird sich Josef Ostendorfs gewaltiger Körper hinter ein Pult klemmen und mit tonlos gesenkter Stimme eine Suada des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger vortragen. „Der Antisemitismus wird verschwinden, wenn der letzte Jude verschwunden sein wird“, kaut er. Marthaler lässt das rhetorische Gift langsam träufeln, ungehindert rinnt es fort in die Gegenwart, in der Ueli Jäggi aus Zitaten von Viktor Orbán und seinem Zirkel eine bodenlose Rede hält: „Wir sind Demokraten, wir brauchen keine Opposition“, heißt es, bevor die „Zigeuner“ als Todfeinde ausgemacht werden. Danach kommt er nicht mehr mannhaft herunter von seiner Tribüne, ein fahriger Slapstick als letzter Retter der Menschenwürde. Eine FPÖ-Politikerin (Katja Kolm) dröhnt von der genetischen Überlegenheit der Europäer und setzt mit einem gezielten Jodelstoß nach.

"Letzte Tage" als Hommage an jüdische Komponisten

Widerlich ist das und nur wenig aufgebrochen durch die Marthaler’sche Theatermechanik: ein paar kindische Auswüchse unter Abgeordneten hier, dazu ein bisschen Lethargie und gebückte Utopie, wenn sich die gerade noch strammen Antisemiten und Rassisten unter den Klängen der Musik wegducken und die Flucht ergreifen. Es ja auch nicht irgendeine Musik. Marthaler will seine „Letzten Tage“ als Hommage an jüdische Komponisten verstanden wissen, die vertrieben oder ermordet wurden: Ernest Bloch, Pavel Haas, Szymon Laks, Erwin Schulhoff, Alexandre Tansman – und Viktor Ullmann, dessen letzte fragmentarische Komposition, 1943 in Theresienstadt, das musikalische Siegel des Abends ist. Die Musiker der Wiener Gruppe spielen sie in einer imaginären Lagerkapellenbesetzung mit zwei Geigen, Klarinette, Kontrabass, Akkordeon und Harmonium. Am Ende bleibt ein Konzert – und eine Erinnerung.

„Flamme, empor!“ schmettern sie irgendwann inmitten der zweieinhalb pausenlosen Aufführungsstunden. Dieser Ruf zum Kampf für ein befreites Deutschland, der 1993 schon durch „Murx den Europäer!“ gellte, wo Musik aus den Öfen drang und zum Schluss alle den Klezmerklängen erlegen waren. Marthalers Geisterbeschwörung und deren Bannung durch die Macht der Musik – geht das noch auf angesichts von sich endlos wiederholendem Hass? Sein verschworenes Ensemble tippelt ganz in ewigem Rentnerbeige durch den Rang. „Wer da bis ans Ende beharrt, der wird selig“ singen sie, aus dem „Elias“ von Mendelssohn-Bartholdy. Das sangen sie auch in Theresienstadt. Die unmittelbaren Verse davor im Neuen Testament lauten: „Und es werden sich viel falsche Propheten erheben und werden viele verführen. Und dieweil die Ungerechtigkeit wird überhandnehmen, wird die Liebe in vielen erkalten.“ Die Beigen sind nicht mehr zu sehen, ihr Gesang schwebt in den Foyers fort. Vielleicht sind diese „Letzten Tage“ ja das: Ein frostiges Plädoyer für heiße Herzen.

Wieder am 5., 6. und 7. September.

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