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Der dänische Dichter Søren Ulrik Thomsen reflektiert in seinem neuesten Band die Lyrik und den Alltag.

© Robin Skjoldborg

Lyrikband von Søren Ulrik Thomsen: Zitterspiegel der Dichtung

Der dänische Dichter Søren Ulrik Thomsen denkt in seinem neuesten Lyrikband über das Dichten nach und verwandelt Alltag in Poesie.

Vielleicht ist die letzte Stunde des Tages die beste. Alles ist zu spät und zugleich zu früh. Mag sein, der Schreibende ist glücklich, mag sein, der viele Tabak hat ihn schwindlig gemacht. Das Gedicht jedenfalls, an dem er den ganzen Abend gesessen hat, „qualmt bloß wie eine alte Lampe.“ Dann wieder versinkt er mitten in einem Satz in Gedanken, und sein Gedicht entblößt die größten, „heimatlosesten“ Vokabeln – „wie schwere Güterwagen stoßen sie aneinander.“

Der dänische Dichter Søren Ulrik Thomsen ist ein Liebhaber von Versen, die über sich selbst nachdenken. In seiner ironisch-melancholischen Parlandolyrik versammelt er Bilder davon, was das Gedicht denn sein könnte. Ein Gefüge aus schwarzen Insekten etwa, das sich von der Seite löst und davonfliegt. Aber auch eine Art von Gefäß, das die Dinge – Beobachtungen, Erinnertes, Gedanken – auffängt und bewahrt. Zugleich soll das Gedicht ein „Zitterspiegel“ sein, der die Phänomene nicht nur aufnimmt und zeigt, sondern eine neue Ordnung für sie findet.

Aschgraue Sakkos und Glühbirnen

Thomsen wurde 1956 im dänischen Kalundborg geboren. Sein erstes Gedichtbuch „City Slang“ erschien 1981. Von Anfang an stellte er den Gedichten die poetologische Erkundung zur Seite, lotete aus, wie dichterische Praxis und Theorie zusammenhängen. Sein vierter Lyrikband „Hjemfalden/Anheimgefallen“ wurde 1993 auf Deutsch veröffentlicht, ein Buch der Gleichzeitigkeiten und inneren Landschaften. Auch dort wird das Gedicht in Reflexionen umkreist, ist eine „glimmende Blutbuche“, deren Sprache niederbrennt – „so weit man sieht“.

In einem schön gemachten Band kann man nun Thomsens jüngster Lyrik nachtasten. Was in den „kleinen schiefen Schuppen der Gedichte“ unterkommt, sind Einzelheiten des Alltags, die Thomsen so ausstellt, dass sie möglichst beiläufig wirken. Unscheinbare Orte wie Büros oder Kneipen, Menschen, die das Leben des Sprechers streifen, das Licht an einer Kreuzung, „aschgraue Sakkos“, Glühbirnen, aber auch Momente aus der Popkultur wie LPs von Bowie oder T. Rex. Gedanken über Erinnerung und Tod verleihen den Versen ihre wieder und wieder betonte „schwarze“ Grundierung. Im Sinne des Zitterspiegels stellt Thomsen Verknüpfungen zwischen den Phänomenen her, treibt kleine Paradoxien aus ihnen hervor oder versucht sie zu verzerren. Klaus-Jürgen Liedtke hat diese Figuren in seinen Übersetzungen gut eingeholt und auch den mal dunklen, mal „lässigen“ Ton der Gedichte getroffen.

Doch so locker Thomsens Verse bisweilen über die Seiten gleiten, so leicht verfallen sie oft in einfaches Schwarz-Weiß-Denken. Hell-dunkel, jung-alt, früher-später, aus solchen Gegensatzpaaren speist sich ein Großteil der Gedichte. Auch werden viele der paradoxen Vorstellungen nur behauptet und nicht in die Form der Gedichte aufgenommen. Einmal bedichtet Thomsen das Schachspiel, das „dank seiner strengen Begrenzung / in unendlichen Variationen wieder und wieder / und wieder beginnen kann“. Ein wenig mehr von dieser Kraft der Variation hätte seinen Gedichten nicht geschadet.

Søren Ulrik Thomsen: Zitterspiegel. Gedichte. Aus dem Dänischen von Klaus-Jürgen Liedtke. Kleinheinrich Verlag, Münster 2016. 100 Seiten, 30 €.

Nico Bleutge

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