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Kind und Kaffee: Alle Zeit

Fünf Frauen, ein Roman: Auf mehreren Zeitebenen rollt die Berliner Journalistin und Autorin Kathrin Gerlof das Schicksal von mehreren Frauengenerationen auf. Das Ergebnis: „Alle Zeit“.

Zwei Frauen treffen sich im Stadtpark, eine verwirrte alte und eine noch sehr junge. Die Ältere ringt um Worte, die ihr immer wieder abhandenkommen und im See zu ertrinken drohen. Die Jüngere, selbst fast noch ein Kind, hat nichts weiter als einen grünen Schopf und einen schwangeren Bauch. Sie fühlt sich zur Alten hingezogen, aber beide trennen sich unverbindlich. Es beginnt die Geschichte einer Verfehlung.

Auf mehreren Zeitebenen rollt die Berliner Journalistin und Autorin Kathrin Gerlof das Schicksal von mehreren Frauengenerationen auf. Klara, die Älteste, wohnt in einem Altenheim und kämpft verbissen um ihren Verstand und gegen die heimtypisch-heimtückische Infantilisierung. Langsam beginnt sie sich wieder daran zu erinnern, dass sie mal eine Tochter hatte, Henriette, die sie nach dem Krieg vernachlässigt hat, weil sie „beim Russen die Beine breit machen“ musste für ein paar Überlebensmittel. Irgendwann hat das „Kaffeekannenkind“, wie Klara sie nannte, weil Henriette in ihrer Einsamkeit mit der Kaffeekanne zu sprechen begann, Klara verlassen, zusammen mit der kleinen Tochter, Elisa, die ihr beiläufig einer hinfabriziert hat.

Im Heim freundet sich Klara mit dem Juden Aaron an, dessen Familie sich ebenfalls „in Luft aufgelöst hat“. Gleichzeitig ringt sie Bild für Bild um die Vergangenheit: Die Nachkriegszeit, als sie mit „dem Russen“ und später mit „dem Helmstedter“ zusammen war, die aufstrebende DDR, in der sie als Funktionärin eine kleine Karriere machte, bis ein anderer Krieg in ihrer Brust begann.

Auf einer zweiten, in der unmittelbaren Vergangenheit handelnden Erzählebene brechen Henriette und ihre erwachsene Tochter Elisa zu einer Erinnerungstour auf. Sie fahnden nach Klaras alter Datsche, in der die drei Frauen glücklichere Zeiten erlebt haben. Elisa hat herausgefunden, dass Großmutter Klara noch lebt. Sie forschen nach ihr, gegen Henriettes Widerstand. Nun nutzt Elisa die Reise, um hinter das Familiengeheimnis zu kommen. Das Häuschen finden die beiden, und was an Erinnerung daran hängt, wird gelüftet. Juli, die junge Frau aus dem Stadtpark, hat inzwischen wiederum eine Tochter geboren, Svenja, für die sie keinen Vater hat und auch keine Mittel, um sie vernünftig zu versorgen. Schließlich nehmen eine kinderlose Hebamme und ihr Mann die beiden auf. Als Julis Schmerz nachlässt, macht sie sich auf die Suche nach dem Abiturienten, der ihr Svenja hinterließ. Noch immer spukt ihr Klara vom Stadtpark durch den Kopf. Sie wünscht sich eine Familie.

All dies wird nicht linear erzählt, sondern in Form eines Entdeckungsdramas, das Gerlof schon in ihrem Debüt „Teuermanns Schweigen“ einsetzte. Sie reiht Teilchen an Teilchen, und am Ende fügt sich das Frauenschicksal in ein Gesellschaftsbild der DDR, die so manche fragwürdigen Sitten mit der alten Bundesrepublik teilte. Dabei bleibt die Autorin lakonisch, auch wenn Schmerzhaftes erinnert wird. So beiläufig eben, wie Frauen in dieser Zeit und in Ost und West ihr Leben zu meistern gewohnt waren.

Auch wenn der Roman in der Gesamtanlage etwas konstruiert erscheint und manches unwahrscheinlich wirkt – die unvermittelte „Adoption“ durch die Hebamme etwa, oder die Kellnerin im Parkcafé, die plötzlich auch an Brustkrebs erkrankt –, wird man der Geschichte der vier Frauen keinen Moment lang überdrüssig. Jede agiert auf ihre Weise überzeugend: Henriette als eine, die sich nie wehren konnte und sich in der DDR anpasste, Elisa als blasse, desillusionierte Aufsteigerin, Juli als grünhaariger Verweigerungs-Punk, der der unmittelbaren Nachwendezeit entsprungen ist.

Die filmwürdige Toprolle allerdings hat Kathrin Gerlof ihrer Klara auf den Leib geschrieben als renitente Alte, die um Selbstständigkeit kämpft und gleichzeitig Angst davor hat, dass sie den „Wettlauf mit der Verblödung“ verliert. Die anrührende Liebesgeschichte, die sich zwischen ihr und Aaron entspinnt, ist nicht nur eine Herausforderung für die brustamputierte alte Frau und den „vergessenen alten Juden“, sondern auch eine literarische, die Gerlof gekonnt meistert. Ulrike Baureithel

Kathrin Gerlof: Alle Zeit. Roman. AufbauVerlag, Berlin 2009.

226 S., 18,95 €.

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