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Fluchtpunkt Shanghai: Der Schrecken ein Glück

Ursula Krechel und Stefan Schomann erzählen vom abenteuerlichen Exil in Schanghai, wo Glück und Schrecken nah beieinander liegen und manchmal eins sind.

Es ist ein Chor von Stimmen, ein Mosaik aus Gesichtern und Geschichten, die sich in Ursula Krechels historischem Roman „Shanghai fern von wo“ zu einem großen Gesang der Trauer und Erinnerung vereinen – und zu einem Panorama, das selber nur ein Bruchstück ist: ein Stück jener großen weltweiten Geschichte des jüdischen Exils.

Schon aus diesen Ambivalenzen zieht das Buch seinen inneren Reichtum. Zumal jedes Zeugnis, der mörderischen Verfolgung durch den NS-Staat „fern von wo“ – also auch fern der zurückgebliebenen, ausgelöschten Verwandten und Freunde – entkommen zu sein, ein Zeugnis des Schreckens ist. In allem Überlebensglück.

Es geht um die „Letzte Zuflucht Schanghai“, und das wiederum ist der Titel noch eines zweiten Buchs zur gleichen Zeit; auch dies eine authentische Flüchtlingsgeschichte vornehmlich aus den späten 1930er und 40er Jahren, die der wechselweise in China und in Berlin lebende Publizist Stefan Schomann jetzt erzählt. Jetzt: gut 70 Jahre nach den November-Pogromen im deutsch-österreichischen Hitler-Reich.

1938/39 flohen daraufhin etwa 18 000 Juden, vornehmlich aus Großstädten wie Berlin, Wien, Frankfurt, Breslau oder Hamburg, in die chinesische Millionenenklave Schanghai. Dort waren bereits die Japaner einmarschiert, doch die von Magnaten, Gangstern und Glücksrittern beherrschte Hafenmetropole besaß, aus der Kolonialzeit herrührend, mit ihren englischen und französischen, deutschen und russischen Quartieren einen internationalen Sonderstatus. Als Chinas „Tor zur Welt“ verlangte Schanghai von den jüdischen Flüchtlingen, denen die Nazis vor der rettenden Schiffspassage schon Geld und Güter abgepresst hatten, zumindest keine Visa.

Eine der vielen Hauptpersonen in Ursula Krechels Roman ist Franziska Tausig. Die Wiener Hausfrau wurde mit ihrem Mann, einem durch vorangegangene KZ-Haft fast gebrochenen, in Schanghai vollends entwurzelten Rechtsanwalt, in die sprachlich und kulturell unverständliche, für die Ärmsten von Schmutz und Krankheit durchsetzte, im Winter feuchtkalte, im tropischen Sommer schwülheiße Ferne verschlagen. Mit „Glück“, denn ihre Schiffsplätze wurden nur frei, weil die ursprünglichen Besitzer am Vorabend Selbstmord begangen. Diese wahre und wie all diese wahren Biografien zugleich romanhaft fantastische Geschichte hat sie später selber erzählt in ihrem Buch „Shanghai Passage“.

Um sich mit ihrem Mann, der vor Kriegsende im halboffenen Ghetto von Schanghai an Typhus verstirbt, überhaupt fürs Erste durchzuschlagen, verdingt sich Franziska als Zuckerbäckerin in einem China-Restaurant (der Reiskoch Rudi war einst ein Breslauer Fabrikant) – so erfindet sie für Schanghai den Wiener Apfelstrudel, die Sachertorte. Und nebenbei auch noch die Frühlingsrolle.

Als sie viel später, als Witwe im Frühjahr 1946, in Wien ihren Sohn Otto wiedertrifft, den die Tausigs Anfang 1939 zur Rettung in einem Kindertransport nach England geschickt hatten, fragt der nunmehr erwachsene Sohn die am Bahnsteig stehende Dame: „Entschuldigung, gnädige Frau, sind Sie vielleicht meine Mama?“ Diese wunderbare, berührende Szene hat auch Ursula Krechel aufgeschrieben. Man könnte sagen: auch abgeschrieben, aus Franziskas und ihres Sohnes, des berühmt gewordenen Wiener Theater- und Filmschauspielers Otto Tausig, Lebenserinnerungen. Aber die hier mit literarischem Feinsinn eingestreute Erinnerung ist ein bewusstes Zitat.

Denn das ist das Besondere dieses Buchs: Die in Berlin lebende 61-jährige Lyrikerin und Essayistin Ursula Krechel hat die Geschichte Schanghais und das europäisch-fernöstliche Kapitel der Emigration gar nicht als ihre genuine Eigenerfindung erzählt. Sie ist die virtuose, empfindsam aufspürende, nachspürende, ein Milieu oder ein Motiv in wenigen, skizzenhaft pointierten Sätzen psychologisch oder seismographisch ausleuchtende Stimmensammlerin. Die historisch-poetische Kompositeurin. Und dies aufgrund vieler, fast drei Jahrzehnte überspannender Reisen nach China sowie in zahlreiche europäische, amerikanische Archive des Exils.

Autobiografien, etwa die des in Schanghai aufgewachsenen Berliners Michael W. Blumenthal, der später US-Finanzminister wurde und heute Direktor des Jüdischen Museums in Berlin ist, dazu historische Darstellungen, Dokumentationen, Ausstellungen (im Berliner Gropius-Bau 1997 das „Leben im Wartesaal“) oder Filme wie Ulrike Ottingers Epos „Exil Shanghai“: All dies gibt es durchaus. Aber Schanghai liegt auch im Zeitalter der Globalisierung noch fern, und die Geschichte der 18 000 Geschichten ist unter allen Exil-Historien noch immer die unbekannteste. Fremdeste. Ursula Krechel gelingt nun wie in keinem Werk zuvor: eine Symphonie. Zusammenklang und Zusammenschau, wie es einst war. Wie es gewesen sein könnte.

Oft lässt sich aus dem Eigenrecht der Dichtung auch sagen: So muss es gewesen sein. So tragisch, komisch, bizarr. Krechels Buch greift sie aus dem schattenhaften Gewimmel heraus und gibt ihnen noch einmal Gesichter: den Wiener Tausigs, dem Berliner Kunsthistoriker Brieger (der einst mit Walter Benjamin verkehrte und mit dessen Frau schlief), den Buchhändler Ludwig Lazarus, der wirklich so hieß und in Schanghai Zeitungen verlieh (den Kauf konnte man sich nicht leisten); als Rückkehrer in der jungen Bundesrepublik – „Der Krieg ist zu Ende, der Papierkrieg beginnt“ – muss dieser Wiederauferstandene dann nach KZ und Exil voll neuer Erniedrigung jahrelang um 4500 Mark „Haftentschädigung“ kämpfen.

Japanische Gerichte, heißt es einmal, tätowierten Urteile in die Haut der Delinquenten. Das klingt wie aus Kafkas „Strafkolonie“. Aber selbst als Fantasie erscheint es noch beglaubigt durch das, was Japans Truppen als Chinas Besatzer an Grausamkeiten gegenüber den Einheimischen inszeniert haben. Die teuflische Pointe dabei: Ihren Rassismus hatten die damaligen Bundesgenossen Deutschlands derart an den Chinesen ausgelassen, dass sie für die von den Nazis verlangte Verfolgung der Schanghaier Juden kaum noch zu gewinnen waren.

Auch dies – ein schreckliches Glück. Schanghai war damals, schreibt die für ihr Buch jetzt mit vielen Auszeichnungen, demnächst auch dem hochdotierten Joseph-Breitbach-Preis bedachte Autorin, Schanghai war „ein gewaltiger fiebriger Aufruhr“. Diesen Ausnahmezustand toppt noch Stefan Schomanns „Letzte Zuflucht Schanghai“, weil er als wiederum wahrer Roman eine ungeheure Romanze erzählt: die Liebesgesichte zwischen dem im Exil fast mittellosen Wiener Kaufmannssohn Robert Reuven Sokal und der Chinesin Julie Chanchu Yang. Der Junge war einer der ganz wenigen europäischen Juden, der Chinesisch lernte und als „Bettelstudent“ mit einer Tochter aus traditionellem Hause zusammentraf. Deren Oberhaupt, ein wohlhabender Arzt, hatte noch eine offizielle Konkubine. Ein Konflikt der Kulturen.

Auch die Yangs waren freilich Flüchtlinge, aus der von den Japanern bombardierten Hafenstadt Ningpo zogen sie ins nahe, weniger kriegszerstörte Schanghai. Robert und Julia zwischen Ghetto und konfuzianischem China – solche Liebesgeschichten waren in der fernöstlichen Exil-Metropole eine Rarität. Stefan Schomann hat das betagte Paar, das heute in einer Altenresidenz nahe New York lebt, mehrfach aufgesucht und lässt sie nun das Abenteuer einer Ehe erzählen, die auch nach 1945 in einer durch kulturelle Differenzen und weitere Geschichtswirren (Maos Machtergreifung, die spätere Kulturrevolution) spannend und spannungsvoll blieb. Das glänzend geschriebene Buch ist so in jeder Hinsicht eine Entdeckung.

Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg/Wien 2008. 503 Seiten, 29,90 €

Stefan Schomann: Letzte Zuflucht Schanghai. Heyne Verlag, München 2208. 239 Seiten, 19,95 €

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