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Lady Gaga im Video zur Single „Perfect Illusion“.

© Andrea Gelardin & Ruth Hogben/Universal

Lady Gagas Album "Joanne": Die Sehnsucht meiner Tante

Gitarren statt Plastik: Lady Gaga zeigt sich auf „Joanne“ experimentierfreudig. Das Album wirkt wie ein großer Gemischtwarenladen.

Im Februar 1903 schrieb Rainer Maria Rilke einen Brief an den 19-jährigen Militärschüler Franz Xaver Kappus. Dieser hatte dem Dichter seine eigenen Lyrik-Versuche geschickt und um einen Kommentar gebeten. Ein längerer Austausch begann, nachzulesen in dem Band „Briefe an einen jungen Dichter“ – bis heute eine Inspiration für viele Schreibwillige.

Auch Lady Gaga ist Rilke-Fan. Sie bezeichnet ihn als ihren Lieblingsautor und hat sich vor sieben Jahren in Osaka einige Zeilen aus dem ersten Brief an Kappus auf die Innenseite ihres linken Oberarms tätowieren lassen. In kalligrafisch verzierten Fraktur-Lettern ist dort auf Deutsch zu lesen: „prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Dieses vor allem: Fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: muß ich schreiben?“

Ein Star will seine Ernsthaftigkeit und künstlerische Berufung bekräftigen

Für Menschen mit Deutschkenntnissen, zu denen Lady Gaga nicht gehört, klingt der Zitatanfang ein wenig holprig, denn es ist zunächst unklar, was mit „er“ gemeint ist. Es wäre hilfreich gewesen, wenn die Sängerin den ersten Satzteil auch noch übernommen hätte: „Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt;“ Wahrscheinlich war kein Platz mehr auf dem Arm. Aber auch so wird klar, dass hier ein Star, der mit knalligem Dance-Pop und exzentrischen Auftritten bekannt geworden ist, seine Ernsthaftigkeit und künstlerische Berufung bekräftigen will. Wobei die deutsche Sprache für Tiefgründigkeit und Bedeutsamkeit bürgt. Asiatische Schriftzeichen hat eh jeder.

Fragt sich nur, ob Lady Gaga wirklich von einem solchen Schaffensfuror angetrieben wird, wie Rilke ihn fordert. Hätte sie sterben müssen, wenn sie nicht vor drei Jahren ihr drittes Album „Artpop“ herausgebracht hätte? Wahrscheinlich wäre ihr bloß ihre Plattenfirma aufs Dach gestiegen. Ansonsten wirkte dieses mit Mode- und Kunstreferenzen vollgestopfte Werk, auf dem sich nur wenige überzeugende Songs befanden, vor allem angestrengt. Wie der verzweifelte Versuch an den Megaerfolg ihres Debütalbums „Fame“ (2008) anzuknüpfen. Es hat nicht geklappt. Und die New Yorkerin suchte sich erst mal neue Betätigungsfelder: Sie spielte in einem Film mit und in einer Serie. Vor zwei Jahren nahm sie mit Tony Bennett ein sehr respektables Album mit Jazz-Standards auf.

Das Album ist benannt nach Lady Gagas Tante Joanne

Jetzt muss die 30-Jährige zurück ins Kerngeschäft – und hat sich noch mal auf ihr Tattoo besonnen. Vor allem auf die kleine Zahlenkombination, die zwischen der zweiten und dritten Rilke-Zeile steht: 18.12.1974. Es ist der Todestag ihrer Tante Joanne, nach der Lady Gaga ihr viertes, am Freitag erscheinendes Album benannt hat. Sie hat die Schwester ihres Vaters Joe, die mit 19 Jahren an Lupus starb, zwar nie kennengelernt, fühlt sich ihr jedoch tief verbunden. Joanne malte und schrieb Gedichte. Einige davon hat Lady Gaga, die bürgerlich Stefani Joanne Angelina Germanotta heißt, in ihrem ersten Album abgedruckt.

Sie sieht es als ihre Aufgabe, die Künstlerin zu sein, die ihre Tante nicht werden konnte – die Rilke-Zeilen könnten auch auf sie bezogen sein. Ganz sicher ist das beim Titelsong von „Joanne“ der Fall, in dem sie zu einer reduzierten Begleitung aus schnell gepickten Akustikgitarren und etwas Percussion singt: „Heaven’s not ready for you / Every part of my aching heart / Needs you more than the angels do.“ Im Refrain kommen ein paar Streicher hinzu und Gaga fragt, wo das als „girl“ angesprochene Gegenüber denn hinwolle. Ihr Gesang, der ohne Effekte auskommt, ist äußerst leidenschaftlich und erinnert sogar ein wenig an die große Stevie Nicks.

Ein erstaunlich unaufgeregtes, akustisches Stück, das wenig mit dem hochtourigen Kirmestechno zu tun hat, den man von ihr kennt. Wahrscheinlich dachte Lady Gaga, dass ihre in den Sechzigern sozialisierte Tante nicht so viel mit diesem Sound anfangen kann. Auch auf den restlichen zehn Stücken entfernt sie sich teilweise weit von ihrer einstigen Klangästhetik. Das Geballer hat sie deshalb natürlich nicht verlernt, was sie schon mit der Vorabsingle „Perfect Illusion“ klarstellte, in der die Vierviertel-Bassdrum durchwummert wie eh und je.

Hinwendung zum Ursprünglicheren

Nach 35 Sekunden nimmt die mit voller Power singende Lady schon den ersten Refrain. Sie klingt wütend, der Song hat eine rockige Anmutung, wobei man ihm nicht anhört, dass Josh Homme, Chef der Desertrocker Queens Of The Stone Age, daran mitgewirkt hat. Immerhin spielt das Video in der Wüste, wo Lady Gaga mit dicken Stiefeln ständig in den Sand kickt und ein schlichtes All-American-Girl-Outfit aus Shorts und T-Shirt trägt. Für jemand, der sonst in Fleischkleidern und Yeti-Kostümen herumläuft oder mit angeklebtem Schnurrbart auftritt, eine ungewöhnliche Kleiderwahl.

Diese Hinwendung zum Ursprünglicheren zeigt sich auch in der Musik. So wird Lady Gagas Stimme weit weniger bearbeitet als in früheren Zeiten, sie steht auch immer mal wieder fast frei. Sie ist ja eine gute Sängerin, Madonna oder Lana Del Rey können da nicht mithalten. Adele natürlich schon. Wie bereits auf „Artpop“ wildert Lady Gaga auch diesmal kurz in den Gefilden der Britin. „Million Reasons“ ist eine hübsche Ballade, aber sicher kein Herbsthit, genauso wenig wie das pathetische Finale „Angel Down“.

Noch nie so wenig clubtauglich und urban

Das Album ist auch sonst von einem Mangel an offensichtlichen Knallersongs geprägt. Es wirkt wie ein großer Gemischtwarenladen, was sicher an den vielen Gästen liegt, die sie eingeladen hat. Neben Josh Homme sind noch Beck, Kevin Parker (Tame Impala), Josh Tillman (Father John Misty) und Florence Welch mit von der Partie. Bei acht der elf Songs war zudem Amy-Winehouse-Produzent Mark Ronson beteiligt. Statt einer klaren Linie gibt es hier mal eine rockige Nummer („Diamond Heart“), dort mal ein Synthie-Pop-Duett („Hey Girl) und dann plötzlich ein Lied mit Country-Vibe, das problemlos auf einer Radiostation für Truck-Fahrer laufen könnte („Sinner’s Prayer“). An Letzterem hat der geniale Genreverschmelzer Josh Tillman mitgewirkt, der auch für das musicaltheatertaugliche „Come To Mama“ verantwortlich ist, bei dem es Lady Gaga mit einer ganzen Bläsersektion aufnimmt.

Derart experimentierfreudig war sie bisher noch nie. Allerdings auch noch nie so wenig clubtauglich und urban. Selten gibt es mal einen dicken Beat, verzerrte Vocal- Samples und schrilles Keyboardgequietsche wie in „John Wayne“ zu hören. Es geht ums Highsein, Freisein und um Cowboys. Ob sich Frau Germanotta in der Wüste in einen Rodeoreiter verguckt hat? Oder war das eine geheime Leidenschaft ihrer Tante Joanne? Besser noch mal ganz genau alle 19 Gaga-Tattoos anschauen.

Erscheint am 21.10. bei Universal; am Freitag im Soundcheck von Radio Eins.

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