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Zeltpoesie. Die Installation „Es gibt einen entzückenden Wald in uns“, aufgebaut im Arp Museum Remagen.

© Ernesto Neto, 2014

Kuschelkunst vom Brasilianer Ernesto Neto: Mehr Flausch wagen

Kuschelzelte und Kissenschlachten: Der brasilianische Künstler Ernesto Neto, ein Star des Neo-Tropicalismo, bekommt im Arp Museum Remagen seine erste große deutsche Ausstellung.

Das Leben ist keine Hängematte. Sondern hart, ungerecht und schonungslos. Ernesto Neto reagiert darauf mit Kügelchen aus Styropor in Stoffsäcken, die man sich wie große, heilende Kissen um den Körper legen kann. Es gibt Löcher in den „Humanóides“ genannten Plastiken für Kopf und Arme, die ein Stück weit das Verschmelzen mit diesen lichtweißen Barbapapas erlauben. Dass sich nach kurzer Zeit auch ein klaustrophobisches Gefühl einstellt, ist der Preis für die Umarmung.

Wie nah sich Glück und Überdruss, erholsame Stille und ein bisschen Einsamkeit kommen können, demonstriert der 1964 in Rio de Janeiro geborene Neto ganz wunderbar in seiner ersten großen Einzelausstellung in einer deutschen Institution. Im Arp Museum Bahnhof Rolandseck hoch über dem Rhein hat er eine ganze Etage bezogen. Darüber hinaus konfrontiert er einige seiner Arbeiten mit denen von Hans Arp und Max Ernst, deren ergiebiger Künstlerfreundschaft im anderen Stockwerk eine zweite Sonderschau gewidmet ist. Netos Werk drängt sich aber nicht dazwischen. Viel mehr wird dank seiner Interventionen sichtbar, wie weit der ästhetische Einfluss der Surrealisten noch in die Gegenwart reicht.

Inzwischen hängen Netos Weichskulpturen überall in Museen oder privaten Sammlungen von der Decke. Ihr Prinzip wiederholt sich auch im Arp Museum mit Stalaktiten aus hellem Nylon, in deren herabhängenden Beulen sich stark duftende Gewürze befinden: gemahlene Nelken, Ingwer, Kurkuma oder Kreuzkümmel. So kündigen sich die Arbeiten über die Nase an, lange bevor man sie überhaupt sieht. Damit wurzelt der Künstler fast noch mehr in der Tradition seiner Heimat, die geprägt ist von der brasilianischen Moderne und den berühmtesten Vertreten des Tropicalismo: Hélio Oiticica, Lygia Pape oder Lygia Clark.

Sie lehnten in den frühen sechziger Jahren den eindimensionalen Rationalismus der Moderne ab, hoben Gefühle, Affekt und Aktionen auf den Sockel der Kunst. Hören, Tasten, Riechen, Schmecken wurden zu Maximen. Auch wenn eine kollektive Performance wie „Baba antropofágia“ von Lygia Clark 1973, in der meterlange Fäden erst fröhlich eingespeichelt und dann um Freiwillige gewickelt wurden, eher etwas für Hartgesottene war.

Jedenfalls kehrte mit ihr und Netos anderen geistigen Vorfahren eine archaische Sinnlichkeit in jene Häuser zurück, die seit Jahrzehnten nach demselben Prinzip errichtet werden. Genau wie das vom amerikanischen Architekten Richard Meier geplante und 2007 eingeweihte Arp Museum, das vor allem eines sein will – ein nüchterner, alles auf sich selbst zurückwerfender White Cube.

Die besondere geografische Situation am Hang lässt allerdings ein paar Ausnahmen zu. So betritt man das Haus durch einen ehemaligen Bahnhof und wandert anschließend durch einen unterirdischen Tunnel bis zu den gläsernen Aufzügen, die einen hoch in die jungen Räume fahren. Dabei fällt der Blick in den Aufzugsschächten auf ihre auffallend expressiven Betonkorsetts. Neto nimmt dieses Detail auf und hängt in die Röhren endlos lange Strickampeln aus farbigem Kunststoff, die stellenweise mit getrockneten Erbsen und Bohnen gefüllt sind, so dass sie im Vorbeifahren wie übersatte Schlangen mit verdächtigen Verdickungen wirken.

Schon hier bricht der Künstler spielerisch mit der Sachlichkeit der Architektur. Oben dann zieht er alle Register und führt dank zweier völlig gegensätzlicher Installationen die ganze Bandbreite seines Könnens vor. „Two Columns for One Bubble Light“ erinnert an ein gigantisches Schneckenhaus. Man betritt es auf Socken, läuft in Spiralen auf sein Innerstes zu und wird von einer diffusen Helligkeit umfangen, die alles Licht und alle Töne dämpft. Der halb transparente Stoff wirkt wie ein Filter. Wobei die Membran auch an fleischige Nylonstrümpfe erinnert und sich zum pränatalen Wohlgefühl eine erotische Komponente gesellt.

Am anderen Ende des Raums wartet das riesige Zelt „O.T.“. Kein Ort des Rückzugs, sondern ein Treffpunkt mit luftigen Netzen in Orange, vielen Kissen und anderen Sitzgelegenheiten, die anzeigen, dass dies ein gruppendynamischer Treffpunkt ist. Instrumente hängen von der Decke. Musizieren erwünscht. Man sollte sich hüten, solche Gesten nicht ernst zu nehmen. Über postmoderne Verweiskünste und Strategien wie Ironie ist Neto, der 2001 Brasilien auf der Biennale von Venedig vertrat und zuletzt große Ausstellungen im Guggenheim Museum von Bilbao und in New York hatte, längst erhaben.

Wer das bezweifelt, sollte den abgedunkelten Raum im Arp Museum betreten, der flauschig ausgelegt ist, das Betreten mit Schuhen jedoch diesmal erlaubt. Drinnen tanzt der Künstler auf einem Video wie in Trance mit Arps bronzener Skulptur „Torso-Profil“ von 1959, die sich in ihrer organischen Weichheit geradezu in seine Hände schmiegt. Ähnlich wie die kleine Venusfigur auf einem Foto vor dem Videoraum: Sie zeigt Netos Lippen, die Figur umschließend und dabei eigentümlich verformt, so dass man sich einen Moment lang vor der Großaufnahme einer Vulva wähnt.

Solche Grenzgänge fordern Einlassung auf ein Werk, das beides in sich trägt. Intuition und spielerische Elemente, die wiederum präzise kalkuliert sein müssen, damit die amorphen Gebilde aus Stoff so exakt zufällig wirken wie vor Ort. Hierhin hat Neto zur Eröffnung auch Vertreter des brasilianischen Schamanenvolks Huni Kuin gebracht, bei denen er sich häufiger aufhält und deren Sprache der Titel der Ausstellung „Haux Haux“ entlehnt ist. Schließlich entdeckt man in der Ecke seine Skulptur „In the corner of life“ mit organisch geformten Scheiben aus Stahl, an deren Enden eine Hängematte befestigt ist. Es gibt Bilder, auf denen der Künstler ganz entspannt darin abhängt. Vielleicht ist das Leben doch nicht so hart und schonungslos, wie es immer tut.

Arp Museum Bahnhof Rolandseck, Remagen, bis 25. Mai.

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