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Magische Wirbel. Nordlicht über Kvaløyas größter Stadt Tromsø.

© picture alliance / Hinrich Bäsen

Kritik: Das zweite Gesicht

„In hellen Sommernächten“: Der Schotte John Burnside erzählt in seinem auf der norwegischen Insel Kvaløya spielenden Roman von den Grenzen zwischen Realität und Einbildung.

Von Gregor Dotzauer

Wo das Sichtbare endet und das Wirkliche beginnt, das beschäftigt nicht nur Theologen. Schon der gewöhnliche Akt des Sehens erfordert, mit einem Wort, das John Burnside dem Astrophysiker Arthur Stanley Eddington als Motto seines Romans „In hellen Sommernächten“ entlehnt hat, den ganz unreligiösen „Akt des Glaubens“, „dass das, was unsere Augen uns zeigen müssen, bedeutsam ist“.

Die Zeichen des Realen wollen gelesen werden. Doch die Anteile des Sichtbaren, die in unsere Interpretation einfließen, sind nicht immer entscheidend, weil sie sich oft als trügerisch erweisen. Auch die Perspektive kommt ins Spiel – gleich ob es um den Sternenhimmel geht oder eine Frühlingswiese. Der reine Augenschein erfasst etwas anderes als ein Teleskop, ein Teleskop etwas anderes als ein Mikroskop, und sobald zum räumlichen Abstand der zeitliche hinzukommt, wird das Erinnerungsvermögen herausgefordert, das Tatsächliche vom nur Eingebildeten zu unterscheiden. Es gibt keine selbstverständliche Zeugenschaft.

Handelt es sich womöglich um ein inneres Auge, wenn sich Burnsides Ich-Erzählerin Liv aus der Distanz von zehn Jahren vergegenwärtigt, was sie als 18-Jährige erlebte und behauptet, dass ihr gestattet wurde, „etwas zu sehen, das nie geschehen sein konnte“? Kurz hintereinander, so berichtet sie, ertranken auf Norwegens fünftgrößter Insel Kvaløya die zwillingshaften Brüder Mats und Harald Sigfridsson, ein dritter Mann, der Urlauber Martin Crosbie, wurde von der spiegelglatten See verschluckt, und ein vierter, Livs älterer Vertrauter Kyrre Opdahl, verschwand für immer. Hinter den Ereignissen vermutet sie die gleichaltrige Maia, einen Todesengel, in dem die mythische Huldra der skandinavischen Sagen wiederkehrt: von vorne ein verführerisch schönes Wesen, von hinten beschwänzt und hohl wie ein alter Baumstamm.

Es ist weniger die Aurora borealis, die dieses mit Naturschilderungen verschwenderisch orchestrierte Erzählen in ein irreales Licht taucht. Es ist das wuchernde Gespinst der Beobachtungen, Mutmaßungen und sich selbst sofort wieder zurücknehmenden Behauptungen, in dem man sich mit Liv verliert. Auf jeden Erkenntnisschritt folgen zwei misstrauische zurück. Das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter, der Malerin Angelika Rossdal lebt, wird zu einer „Abfolge von Illusionen“. Und sie selbst, die „Spionin Gottes“, die den Inselbewohnern mit einem Fernrohr nachjagt, erklärt sich zu einem Phantom an der Grenze zur erträumten Unsichtbarkeit: „Ich besitze nur wenige Erinnerungen, die ich bereit wäre, meine eigenen zu nennen.“

„Summer of Drowning“ entwirft mit traumlogischer Langsamkeit „eine Welt, in der alles schön und dem Untergang geweiht, zugleich aber eigenartig beruhigend“ ist. Burnside blickt in Verstehensabgründe, an denen innere und äußere Wahrheit für immer auseinanderklaffen. Liv ist dabei nicht nur eine unzuverlässige Erzählerin. Sie versucht, sich selbst ein einziges Rätsel, Ereignisse zu durchdringen, die vor ihr zurückweichen.

Die Fremdartigkeit dieses mystery thriller lässt sich nur dadurch vertrauter machen, indem man ihn als Variation über Henry James’ berühmte Geistergeschichte „The Turn of the Screw“ aus dem Jahr 1898 betrachtet. Burnside selbst hat sie als Vorbild genannt. Seit jeher wird darum gestritten, ob die Geister darin nun real seien oder die Ausgeburt einer neurotischen Frauenseele. Edmund Wilson plädierte 1934 für eine radikalfreudianische Lesart, derzufolge die Erscheinungen Folge der unterdrückten Sexualität der Erzieherin sind, von der James erzählt. Neuere Interpreten wie Tzvetan Todorov sehen James’ Genie hingegen darin, dass beide Deutungen möglich seien.

Wenn „In hellen Sommernächten“ neben kleinen Redundanzen eine Schwäche hat, dann die, dass man den Roman schwerlich als ein solches Vexierspiel lesen kann. Die Spuren, die Burnside legt, weisen darauf hin, dass die sexuell gehemmte, alles Triebhafte von sich weisende Liv, die sich ein hellseherisches „zweites Gesicht“ zuspricht, eine Psychotikerin ist. Als einsame Geisel einer allein erziehenden, nur für ihre Malerei lebenden Mutter, die ihr alle Informationen über den Vater vorenthält, hat sie sich in ihren Fantasien eingerichtet und reist dem unbekannten Vater ans Londoner Sterbebett nach, ohne ihn noch lebend anzutreffen. Liv, die anderen nachspioniert, und Maia, von der sie sich verfolgt fühlt, ergeben eine Doppelbelichtung, deren schizophrene Grundierung klar zutage tritt. Sie ist „die zweite Tochter, die Mutter nie gehabt hatte, meine gegensätzliche Schwester, heller und dunkler als ich.“

Was Burnside darüber hinaus aber mit diesem Buch versucht, das nicht nur durch die konkurrierenden Deutungsebenen an die postindustriellen Apokalypsen des Vorgängerromans „Glister“ anschließt, legt von den sprachlichen und denkerischen Möglichkeiten der Literatur mit einer Kraft Zeugnis ab, über die wenige Schriftsteller verfügen.

Romantisch im Bemühen, alle Wahrnehmungs- und Erkenntnispforten aufzustoßen, aufgeklärt genug, darüber die Gesetze der Vernunft nicht zu leugnen, und postmodern in den Erzählstrategien, rehabilitiert er für das Zeitalter der Naturwissenschaften den Wert archaischer Denkweisen. Denn er weiß: „Welche Form wir der Ordnung auch geben, bleibt sie letztlich doch eine Illusion, weshalb irgendwann irgendwas aus dem Schatten vortritt und infrage stellt, woran wir so entschlossen glauben.“

Die alten Geschichten überschreiben die neuen. Und so, wie sich die mythische Huldra nicht exorzieren lässt, lebt Livs Mutter nach dem Muster von Homers Penelope von „Freiern“ umgeben, die bei ihrer unberührbaren Königin allsonntäglich Hof halten. Für Burnside existiert, in den Worten seiner Figur Kyrre Opdahl, „keine alte Zeit – alles war gegenwärtig, alles kontinuierlich. Was heute geschah, im hellen Licht des Tages, gehörte einem ewigen Mysterium an, einer Geschichte, in der (…) die Realen und die Geister auswechselbar blieben.“

Der 1955 geborene Schotte lehrt an der University of St. Andrews kreatives Schreiben und erhielt als Dichter mit dem T.S. Eliot-Preis für „Black Cat Bone“ dieses Jahr Englands begehrteste Auszeichnung für Poesie. Von Anfang an war er als unverwechselbare Stimme präsent, was auch der zweisprachige Auswahlband „Versuch über das Licht“ bei Hanser zeigt. Als Erzähler hat dieser zornige, ökologiebewegte Linke seine Zeit gebraucht. Jetzt aber ist er da, und die Begeisterung über sein Memoire „Lügen über meinen Vater“, das in „Waking Up in Toytown“ einen würdigen Nachfolger fand, lenkt die Aufmerksamkeit auf den Rest seines Werks, ausgehend von der brutalen Enge seiner Kindheit, aus der ihn – mit psychiatrischen Umwegen – schließlich die Literatur befreite.

So vielgestaltig Burnsides Werk ist, so sehr durchziehen es Motive, die er in den verschiedensten Konstellationen ausprobiert. Das Phantasma des Verschwindens, die Suche nach dem Anderen, das doch das Eigene ist, der Umgang mit Schimären – all das findet man immer wieder. Burnsides Texte kommentieren sich gegenseitig, und so spiegelt sich in der ständigen Blickverkehrung zwischen Jäger und Gejagtem, mit dem das Langgedicht „The Fair Chase“ den Band „Black Cat Bone“ eröffnet, etwas von der ständigen Blickverkehrung zwischen Liv und Maia.

Unübersehbar ist aber vor allem Burnsides Leidenschaft für die Malerei, die er in „Summer of Drowning“ zu einer Theorie über den Sinn und Zweck von Kunst allgemein entwickelt. „Was ist Malerei denn anderes als der Versuch, mittels Kunst die Oberfläche des Tümpels zu umarmen, in dem wir uns spiegeln“, fragt er mit dem Renaissance-Architekten Leon Battista Alberti.

Den Mythos von Narziss zurechtrückend, der nicht wissen konnte, dass er sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt, kommt er zu dem Schluss, dass dieser sein Ich erst als Objekt in dieser Welt entdecken musste, um sich als sterbliches Wesen zu begreifen: „Zum ersten Mal ist er Teil der Welt, und Kunst ist seine Möglichkeit, auszudrücken, dass er in der Welt ist, in ihr und von ihr.“ Das kann nur eine Auskunft in eigener Sache sein.

John Burnside: In hellen Sommernächten. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Knaus Verlag, München 2012. 380 Seiten, 19,99 €.

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