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Verspielt. Der kanadische Regisseur Denis Côté.

© Kai-Uwe Heinrich

Kinowerkschau in Berlin: Im Wald, da lauern die Monster

Sein letzter Film lief auf der Berlinale, jetzt zeigt das Kino Arsenal eine Werkschau: der Kanadier Denis Côté und seine Rätselfilme.

Es ist das abgrundtief Böse, das da lustig aus der Hängematte herauslugt. Und es trägt ein weißes Unterhemd: Selten agierte im Kino eine Frauenfigur so diabolisch wie in Denis Côtés jüngstem, im Berlinale-Wettbewerb gezeigten Film „Vic + Flo haben einen Bären gesehen. Vic und Flo, ein weibliches Liebespaar mit gemeinsamem Gefängnishintergrund, werden dem Hass dieser Frau zum Opfer fallen. Zwei Bärenfallen spielen dabei eine grausame Rolle.

Was genau einst zwischen den Protagonistinnen vorgefallen ist, das zu dieser extremen Wendung führte? Côté hat es weggelassen. Der 39-jährige Kanadier hält sich nicht an übliche Erzählstrukturen. In seinen sieben in den letzten sieben Jahren entstandenen Langfilmen, die das Arsenal derzeit in einer Werkschau präsentiert, werden Geschichten selten erklärt und ihre Stränge selten zu Ende erzählt. So gab es für „Vic + Flo“ bei der Berlinale zwar den Alfred-Bauer-Preis, aber auch zahlreiche negative oder auch fassungslose Kritiken. Die sei er gewöhnt, sagt der Regisseur und reckt dazu beim Gespräch im Arsenal-Büro die tätowierten Arme in die Luft. Manchmal seien Zuschauer richtig böse, weil sie sich über die Motive der Figuren kein verlässliches Bild machen könnten.

„Es geht mir um Überraschung. Um das Spiel“, sagt Côté. „Mich ermüden Filme, die stringent erzählen, wie es das Hollywoodkino tut.“ Zugleich sind seine Filme weder chaotisch, langweilig oder bemüht experimentell. In „Curling“ (2010) entwickelt sich die Geschichte anfangs als dichtes Porträt zweier Außenseiter: Jean-François, Hausmeister auf einer Kegelbahn, lebt mit seiner zwölfjährigen Tochter Julyvonne im französischsprachigen, schneeverwehten Niemandsland Kanadas. Das Mädchen hat keinerlei Kontakt zur Außenwelt, der Vater nur peripher durch seinen Job. Eines Tages machen beide traumatische Entdeckungen, die sie für sich behalten. „Nos vies privées“ (2007) stürzt sich mitten in die Liebesbeziehung zweier Bulgaren, die im Internet begann und durch zwei unglaubliche Ereignisse eine gruselige Färbung annimmt. Was passiert ist und warum, behält Côté für sich. „Die Schauspieler wollen immer Backstorys für ihre Figuren. Ich sage dann: Denk dir eine aus. Denn ich habe keine“, sagt er. „Ich schaue absolut nie zurück, bis zur Schmerzgrenze. Und schon gar nicht mit einem romantischen Ton.“

Côté, der sich mit seinem sympathisch zerfledderten Rock-’n’-Roll-Putz, Lakritzbrille und Zahnlücken deutlich von Durchschnittsfilmemachern unterscheidet, gewann bereits mit „Drifting States“, seinem Debüt über einen einsamen Neuling in Quebec, den Goldenen Leoparden in Locarno. Und „Elle veut le chaos“, die verstörende Studie einer Frau inmitten einer Gruppe aggressiver Männer, wurde dort 2008 mit dem Silbernen Leoparden geehrt. Zwischen den Spielfilmen dreht Côté stets Dokumentarfilme. Der 2009 entstandene „Carcasses“ ragt – neben „Bestiaire“, der in statisch gefilmten Bildern von Tieren in Gefangenschaft und auf freier Wildbahn erzählt – aus dem übrigen Œuvre heraus: Eine Stunde lang beobachtet die Kamera in ruhigen Einstellungen das Leben des Total-Messies und Schrottsammlers Jean-Paul Colmor, der seine Tage damit füllt, herumzuhämmern und mit Autoteilen herumzuziehen. Dann bekommt Colmor plötzlich Besuch von vier Jugendlichen mit Down-Syndrom, die die gemütliche Metallmüllhalde zu einer Außenseiterinsel umfunktionieren. Dialoge gibt es nicht, dafür Geräusche, mehr oder weniger erratische Aktionen, vermeintliche Fürsorge, Westernbilder. Und wieder einmal eine unerwartete Wendung ins Unerklärliche und Schlimme.

Er habe einen Außenseiter der Gesellschaft mit Ausgestoßenen zusammenbringen wollen, sagt Côté – und indem er vom Dokumentarischen ins Inszenatorische wechselte , „natürlich ein Tabu verletzt“. Wobei er als ehemaliger Filmkritiker die Arbeiten der Kollegen stets neugierig beäugt. „Irgendwo stand, der Film bemühe sich mit jedem Bild um Originalität, nur um anders zu sein. Schrecklich!“ Unkonventionalität ist bei ihm nie Selbstzweck. Immerhin an ein wiederkehrendes Motiv kann sich der Zuschauer halten: Wälder. „Städte interessieren mich nicht, weil und obwohl ich selbst Städter bin. Im Wald aber kann man alles machen: Natürlich gibt es dort Monster, und natürlich lauert hinter dem Baum ein irrer Mörder!“ Man erkennt ihn nur nicht immer daran, dass er ein Feinrippunterhemd trägt.

Werkschau im Arsenal bis 25. April. Dann startet auch „Bestiaire“ im Kino.

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