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Wenn Beten nicht hilft. In der mongolischen Wüste wurden Maos Kritiker in Umerziehungslagern interniert. "The Ditch" erzählt ihre Geschichte.

© Wildbunch

Filmfestival Venedig: Schrei aus der Wüste

Ein Film wie eine Detonation und ein Zeugnis ungeheuren Muts: "The Ditch" von Wang Bing über ein chinesisches Umerziehungslager wirft das Festival von Venedig aus der Bahn.

Das Ende der Welt ist da, wo der Tod ist. Es ist vor fünfzig Jahren in dem chinesischen Lager Jiabiangou, es ist nach dem Militärputsch 1973 in Santiago de Chile, es ist 1845 in Oregon, und es kann heute sein, hinterm Ural, in arktischen Weiten oder gleich nebenan. Das Ende der Welt ist da, wo Menschen verdursten, verhungern, ermordet werden, das Ende der Welt ist immer und überall.

Von vielen Enden der Welt erzählen die Spielfilme der 67. Mostra in Venedig, am erschütterndsten in Wang Bings „The Ditch“ (Der Graben) – gedreht so weit weg, dass die lokalen Behörden und die Zensur davon nichts mitbekamen: in der Wüste Gobi an der Grenze zur Mongolei. Dort ließ der 43-jährige Regisseur, der bislang mit Dokumentarfilmen hervorgetreten ist, eines der sogenannten Umerziehungslager nachbauen – in solche Lager sperrte die Kommunistische Partei unter Mao Millionen Chinesen, die Kritik an der Kulturrevolution geäußert hatten. Dort schaufelten die Gefangenen die Gräben, in denen sie schliefen, hungerten und starben, dort schaufelten sie ihre Gräber.

„The Ditch“ zeigt das Dahinvegetieren der Insassen eines solchen unterirdischen Barackentrakts, in den durch ein paar Löcher Licht, Sand und Staub fällt – und hält sich dabei exakt an die Berichte von rund hundert einstigen Häftlingen, die Wang Bing auf Recherchereisen kreuz und quer durch China besuchte: „Nichts wurde zurechtgemacht oder hinzugefügt.“ In seiner ersten Hälfte zeigt der Film, wie die entkräfteten Gefangenen zu überleben suchen, nachdem ihnen zwar die Arbeit an den Gräben erspart, aber auch kaum mehr Essen zugeteilt wird. Sie fangen Mäuse und kochen sich daraus schwarze, schleimige Suppe. Sie schlürfen das Erbrochene ihrer sterbenden Pritschennachbarn. Und wenn sie zum Verscharren Verstorbener abkommandiert werden, ziehen sie – das sagt der Film, ohne es abbilden zu müssen – den Toten die Lumpen vom Körper und schneiden aus den Leichen Fleisch heraus.

In der zweiten Hälfte des Films tritt mit einer Frau, die ihren Mann sucht, eine Art unendlich fernes Leben in den Stollen – und die Schmerzensschreie, als sie von seinem Tod erfährt, zerfetzen die gespenstische Stille, mit der die Gefangenen sich auf ihr eigenes Sterben vorbereiten. Zwar versuchen die Männer zu verhindern, dass sie den Toten sieht – aber sie erkämpft sich den Anblick des Sandhaufens von Grab, wirft sich darauf und nimmt schluchzend Abschied. Zwei Insassen helfen ihr, die Leiche zu verbrennen, und sie trägt die in einen Stofffetzen gewickelten Überreste fort. Das Ende von „The Ditch“: Ein Teil des Lagers wird aufgelöst, es gebe „zu viele Tote“, heißt es in der Partei. Aber man wird die entlassenen „Rechtsabweichler“ im Auge behalten.

Man hungert, man stirbt: In China, Argentinien, Amerika

Ein Spielfilm? Eher ein extrem nüchtern nachinszeniertes Dokument. Ein Manifest, das gerade wegen seiner zurückhaltenden Form aufwühlt. Vor allem aber ist der europäisch finanzierte „The Ditch“ das Zeugnis eines ungeheuren Muts – als erster Film eines Chinesen, der das große Tabu der chinesischen Geschichte zum Thema macht. Man muss sich das etwa so vorstellen, als hätte ein Deutscher nach fünfzig Jahren den ersten Film über Auschwitz gedreht – und die ideologischen Nachfahren Hitlers wären noch immer am Ruder.

„The Ditch“, als „Überraschungsfilm“ im Festivalkatalog angekündigt, wirkt wie eine Detonation. Mit einem Schlag betäubt er einen selbst für all die Filme, die – so scheint es nun – das Ereignis auf ihre Weise vorbereiteten. Aleksei Fedorchenkos „Ovsyanki“ etwa liest sich jetzt, angesichts motivischer Parallelen, wie ein poetischer Zerrspiegel von Wang Bings Film. In einem zentralrussischen Ende der Welt stirbt die Frau eines Fabrikdirektors. Gemeinsam mit einem Angestellten wäscht er den Leichnam, fährt die Tote durch blassgraue Ödnis an einen Fluss, wo er einst mit seiner Frau glücklich war. Die Männer bauen einen Scheiterhaufen, übergießen die in eine grobe Wolldecke gewickelte Leiche mit Unmengen von Alkohol und stecken sie an. Nachher gießt der Witwer die Asche ins Wasser. „Ovsyanki“ ist bildmächtiges, metaphernsüchtiges russisches Kino – und doch plötzlich nur eine Erfindung unter vielen.

Und Vincent Gallo, der als afghanischer Terrorist aus einem geheimen CIA-Lager in der schneebedeckten Taiga eines nicht näher bezeichneten Landes entkommt und sich von Termiten, Baumrinde und rohem Fisch ernährt? Jerzy Skolimowskis „Essential Killing“ schwelgt mit Inbrunst und imponierender Bilderwucht in Lebensranderfahrungen und wägt nebenbei, nicht eben trennscharf, das Morden gegen das Töten aus Notwehr ab. Aber gerade wegen seines bloßen Schwelgens fürs Extrem wirkt auch er, für einen Augenblick, wie eine flüchtige Fluchtfantasie.

"The Ditch"-Regisseur Wang Bing: Als hätte ein Deutscher nach fünfzig Jahren den ersten Film über Auschwitz gedreht – und die ideologischen Nachfahren Hitlers wären noch immer am Ruder.
"The Ditch"-Regisseur Wang Bing: Als hätte ein Deutscher nach fünfzig Jahren den ersten Film über Auschwitz gedreht – und die ideologischen Nachfahren Hitlers wären noch immer am Ruder.

© Reuters

In Kelly Reichardts „Meek’s Cutoff“ ziehen drei Siedlerfamilien mit ihren Planwagen und einer Handvoll Vieh durch ein Amerika, das aussieht wie die Mongolei: leer, steinig, kein Wasser weit und breit. Als der kleine Treck unter Führung eines grimmigen Cowboys (Bruce Greenwood) vom Pfad abkommt und bald alle zu verdursten drohen, müssen sie auf die Ortskenntnis eines – gefangenen – Indianers vertrauen. In dem wohl ungewöhnlichsten Showdown der Westerngeschichte spielt dann aber nicht der Cowboy, nicht der Indianer, sondern die Frau eines der Siedler (Michelle Williams) die entscheidende Rolle. „Meek's Cutoff“ ist ein feiner postfeministischer Western – und auch er doch plötzlich nur eine Fußnote des Festivals.

Von all diesen teils brillant inszenierten Enden der Welt – auch Pablo Larrains „Post Mortem“ gehört dazu, die in den Tagen um den Sturz von Salvador Allende spielende finstere Liebesgeschichte eines Angestellten im Leichenschauhaus – muss ein Festival irgendwann wieder zum Anfang zurückkehren, zu Aufbrüchen, zum Leben. Zur Halbzeit empfehlen sich für höchste Ehren vor allem so leuchtende Filme wie François Ozons „Potiche“ und Sofia Coppolas „Somewhere“. Ozon feiert, mit der blendend aufgelegten Catherine Deneuve, das Leben mit wunderbar schamloser Überdeutlichkeit, Coppola tut es, wie es ihre Art ist: beiläufig und zart. Ihr Film über einen unmerklich vereinsamenden Hollywoodstar, der auf einmal begreift, dass er eine elfjährige Tochter hat und darüber endlich erwachsen wird, hat dem Festival – mit Stephen Dorff und Elle Fanning – schon jetzt sein anrührendstes Hauptdarstellerpaar geschenkt.

Aber wer mag heute auf Favoritensuche gehen – zumal Titel wie Abdellatif Kechiches „Vénus noire“, Saverio Costanzos vielberaunter „Die Einsamkeit der Primzahlen“ und Tom Tykwers „Drei“ noch bevorstehen? Wer Wang Bings phänomenalen Film gesehen hat, stolpert selber wie aus einem Stollen zurück ans Licht – unter den kühlen, grauen Himmel eines schmalen Inselchens namens Lido di Venezia, irgendwo am Ende der Welt.

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