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Mit Wes Andersens "Moonrise Kingdom" sind die Filmfestspiele eröffnet.

© promo

Eröffnungsfilm in Cannes: "Moonrise Kingdom": Die Stadt der erwachsenen Kinder

Pfadfindertraum einer Zwölfjährigenliebe: Das 65. Filmfest von Cannes eröffnet – schön unreif, schön weise - mit Wes Andersons "Moonrise Kingdom".

Mit ihren Eröffnungsfilmen haben sie in den letzten Jahren in Cannes nicht immer das glücklichste Händchen gehabt. Mal setzten sie, etwa mit „The Da Vinci Code“ oder „Robin Hood“, auf den lärmenden Action-Blockbuster, mal auf die hochversonnene Romanze („My Blueberry Nights“) oder das raunende Science-Fiction-Schauerdrama („Blindness“). Zwischendurch immerhin gab es immer wieder mal den hochwertigen Gute-Laune-Film: Das Animationsabenteuer „Up“ entzückte das Gala-Publikum ebenso wie zuletzt Woody Allens „Midnight in Paris“ - charmante Zeitreise und sehr, sehr romantische Komödie in einem.

Was aber, wenn Cannes mit einem Actionfilm plus Komödie plus Drama plus Liebesfilm startet  und das Crossover-Ding dann auch noch „richtig reinhaut“, wie sein zwölfjähriger Hauptdarsteller kurzerhand im Presseheft befindet? Dann kann es sich nur um die allerneueste unverwechselbare Multigenre-Expedition aus der Traumwerkstatt des Wes Anderson handeln. Mit seinem siebenten Spielfilm, „Moonrise Kingdom“, feiert der 43-jährige Amerikaner zudem seine persönliche Premiere in Cannes – und bringt, neben den jugendlichen Hauptakteuren und Leinwandneulingen Jared Gilman und Kara Hayward, auch jede Menge gereifter Prominenz an die Croisette mit: von Bruce Willis bis Frances McDormand, von Edward Norton bis Tilda Swinton, den wunderbaren Bill Murray nicht zu vergessen. All diese Erwachsenen glänzen in kleinen, kleineren und kleinsten Rollen, so bescheiden, wie sich das gehört. Denn „Moonrise Kingdom“ ist, um Jared Gilmans Jubel noch ein Genre hinzuzufügen, ein Kinderfilm.

Ein Kinderfilm allerdings der höchst besonderen Art. Denn die Universen, die der einzelgängerische Zauberer Wes Anderson erfindet, sind unreif und weise zugleich. Rebellisch feiern sie alles, was sich nicht in die durchkatalogisierte Erwachsenenwelt fügt, und mit mildem Blick wissen sie auch die absonderlichste Not noch ins Glück zu wenden. Dysfunktional sind seine Familienaufstellungen vor allem insofern, als die Kinder dabei von schrecklich erwachsenen Konflikten durchgerüttelt werden, während die Erwachsenen sich oft eher kindisch benehmen. Und schon schaut der sogenannte erwachsene Zuschauer, für den Andersons Filme fraglos gemacht sind, mit frisch geschärftem Kinderblick auf sich selbst:  ziemlich komisch, dieses Ich.

Und worum geht es in dem Film?

Also: Sam liebt Suzy. Und Suzy liebt Sam. So ernsthaft ist diese stille, durch kleine Briefchen befeuerte Passion, dass die beiden Zwölfjährigen  – wir sind im Herbst 1965 auf der Fantasie-Insel New Penzance vor Neuengland – beschließen, miteinander durchzubrennen. Sam haut ab aus seinem todlangweiligen Pfadfinder-Camp und erst recht aus dem faden Zuhause der noch todlangweiligeren Pflegeeltern, und Suzy hat genug von ihrer in einem alten Leuchtturm elegisch aneinander vorbeilebenden Familie, der Mama (Frances McDormand) und Papa (Bill Murray) in Gestalt irgendwie frühverstaubter Aliens vorstehen. Nur: Wie kann man nachhaltig verschwinden auf einer kaum 16 Meilen langen Insel? Sie hat zwar keinerlei asphaltierten Straße, was die Verfolger eine Weile behindern mag; andererseits gibt es da dieses vermaledeite einmotorige Postflugzeug, das New Penzance zur Not auch außerplanmäßig ansteuern kann.

Immerhin, die Liebenden sind gewappnet - Sam, der mit seinem Wuschelgesichtchen hinter dicker Brille aussieht wie ein Nerd lange vor Erfindung der Nerds, und Suzy, die aussieht wie eine obervorpubertär wiedergeborene Amy Winehouse. Sie ahnen, dass ihnen nur eine begrenzte Freiheitszeit gegeben ist, also nutzen sie sie ganz. Sam besitzt überdies ein Luftgewehr, Suzy unter anderem eine Schere: Damit lassen sich die Nachstellungen der Pfadfinder unter Anführung des wunderbar verhuschten Scout Masters Ward (Edward Norton) erstmal abwehren. Irgendwann aber rücken echtere Erwachsene an – neben Suzys Eltern der Dorfsheriff (Bruce Willis) und vor allem jene Zicke, die bloß „Jugendamt“ (Tilda Swinton) genannt wird und die den kleinen Sam ruckzuck in die Menschenverbesserungsanstalt sperren will.

Keine Frage, Wes Anderson hat sein singuläres Insularium – mit majestätisch genießerischen Kamerafahrten und durchweg in einem Retro-Farbrausch à la Kodachrome - allerliebst erfunden. Auch die Schauspieler knieen sich in ihre verknorzt herumkaspernden Figuren hingebungsvoll hinein. Mit dem aus früheren Filmen („The Royal Tenenbaums“, „Die Tiefseetaucher“) geläufigen Risiko allerdings, dass Anderson es mit dem entfesselten Dauer-Aufziehen seiner Spieluhr ein bisschen übertreibt. Nur steckt diesmal das Teufelchen weniger in der Detailüberfülle als in der Dramaturgie. Der Film, der erst so beiläufig wie präzis seine Welt entwirft, mit einem am Originalschauplatz herumspazierenden Erzähler (Bob Balaban), verliert sich im Überlauten und einem arg glatten Happyend. Dabei ist die Welt nicht süß, wer wüsste das besser als Sam und Suzy.

Dennoch, welch beschwingter Start für Cannes, das nun zwölf Tage lang vor allem die Fantasie der Bilder feiert - und für die Jury unter dem humoraffinen Nanni Moretti! Nebenbei funktioniert „Moonrise Kingdom“ auch als Metapher auf gewinnende Eröffnungsfilme überhaupt. „Moonrise Kingdom“ tauft das junge Paar den schmalen Strand, an dem es sich so schelmisch verschanzt, als hätte jemand mal eben Tom Sawyer und Becky Thatcher für immer auf Huck Finns Mississippi-Insel vereint. Im „Königreich des Mondaufgangs“ aber darf auch der Festivalgast fröhlich Wohnung nehmen - jedenfalls für den Anfang. Dunkelwelten, bösere, gibt es noch genug. 

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