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Eine Art Superheldin. Laure (Zoé Héran) nennt sich Mikael. Der Vater (Mathieu Demy) hilft ihr bei der Suche nach ihrer wahren Identität.

© Alamode Film

Kino: Sommer der Träume: "Tomboy" erzählt von einem Mädchen, das sich als Junge fühlt

Zwischen Euphorie und Schmerz: Céline Sciammas „Tomboy“ ist ein Film für Kinder genauso wie über Kinder, für Familien wie über Familien.

Irgendwann kurz vor Schluss löst sich die von Crystel Fournier agil geführte Kamera aus den Naheinstellungen, mit denen sie die Familien- und Freundesknäuel betrachtet, gerade so, als gehörte sie selber dazu. Sie lässt auch ab von den gelegentlichen Totalen, mit denen sie ihre kleinen Heldinnen und Helden in den Blick nimmt, aus der Tiefe eines Hochhausflures etwa oder hinaus ins Vorstadtsommerferiengrün.

Es ist jener Moment, in dem Laure (Zoé Héran), die sich Mikael nennt, hinausrennt in das Waldstückchen neben der Siedlung. Der Moment, nachdem sie sich vor der Familie eines Jungen und, schlimmer noch, vor ihrer Freundin Lisa (Jeanne Disson) als Mädchen hat zu erkennen geben müssen. Und der Moment, bevor die beschämend konkrete Geschlechtsidentifizierung durch die Gruppe von Nachbarskindern beginnt. Die Kamera ist Laure in den Wald gefolgt – und sieht, solange ein Innehalten dauert, mit Laures Augen hinauf in die rauschenden Wipfel, hierhin schweifend und dorthin, in die atmende Natur. Vorbei das Geheimnisspielen, eine Identität ist geboren.

In Mädchenbüchern hießen Mädchen wie Laure früher „Wildfang“, Mädchen, die wie Jungs sein wollten, kurze Haare, weite Hosen, Ausspucken beim Fußballspielen und keine Angst vor Raufereien. In den Sommerferien ist die zehnjährige Laure mit den Eltern und ihrer puppenhaft süßen kleinen Schwester Jeanne (Malonn Lévana) wieder mal umgezogen, und bevor die Klassenlisten mit den unweigerlich echten Vornamen veröffentlicht werden, verwandelt sich Laure für die neue Clique in Mikael. Mikael kann gut kicken, cool kucken, und wenn man zusammen schwimmen geht, schnippelt sie mal eben den Badeanzug zur Badehose um und versteckt darin ein Penislein aus Plastilin.

„Tomboy“ hat die 33-jährige Französin Céline Sciamma ihren zweiten Spielfilm genannt – dabei war der Transgender-Begriff in ihrer Heimat bislang ganz ungeläufig. Dort nennt man Mädchen wie Laure „garçon manqué“, verfehlter Junge. Diese Wortschöpfung empfindet Sciamma, die als ihre eigene Drehbuchautorin auch autobiografisches Material verarbeitet hat, als „beleidigend“, denn sie schließe das Scheitern ein. „Tomboy“ aber gefiel ihr, „das klang nach Superheld“, und weil ihr klarer, kluger und sensibler Film in Frankreich ein beträchtlicher Erfolg wurde, hat er nun auch dort zur Popularisierung der alten britischen Vokabel beigetragen.

Superheldenmäßig allerdings fühlt sich Laure alias Mikael kaum in diesem kurzen Sommer des Traum-Ausprobierens – bevor alles auffliegt zu einer Oberflächenwahrheit hin, die sie selber als Lüge empfindet. Denn sie muss ihre immer manifestere Abweichungslust vom Geschlechterrollenbild verbergen, sie weiß nicht, wie reagieren auf Lisas Verliebtheit, es sei denn in einem Gewitter aus Überraschung, Angst, Freude und Traurigkeit, und irgendwann zieht sie sogar die kleine Schwester mit ins Geheimnis hinein. Als Enttarnung und Strafe drohen, sind ihr die Eltern nur insofern eine Hilfe, als die Mutter ihre eigene Hilflosigkeit mutig benennt, während der Vater sich so zart wie grundsätzlich aufs wortlose Trösten verlegt. Dem Schmerz selber aber muss Laure sich vor allem in der Gruppe, vor den Gleichaltrigen, stellen – und ihn überwinden.

Ist „Tomboy“ die Geschichte einer lesbischen Initiation? „Überhaupt nicht“, meint Céline Sciamma. Es gehe eher um eine gewisse Unentschiedenheit gegenüber üblichen Zuschreibungen – und um Kindheit überhaupt. „Unschuldig“ sei Kindheit allenfalls, weil man als Kind eben „noch nicht schuldig“ sei. Gleichzeitig aber sei diese Lebensphase „unerhört sinnlich, mit sehr eigener Erotik und großen Emotionen“. Darüber habe sie einen „physischen Film“ machen wollen. Den hat sie dann in einem kurzen Sommer geschrieben, besetzt und gedreht, ohne viele Proben, mit langen Aufnahme-Takes, in denen die Kinder bald ganz bei sich selber waren. Den Rest besorgt der Zauber der Montage.

Tatsächlich ist „Tomboy“ ein Film für Kinder genauso wie über Kinder, für Familien wie über Familien, und von einer großen, schönen Einsamkeit für alle handelt er auch. Es ist eine Einsamkeit immerhin, die sich in etwas anderes auflösen kann – etwa als Laure und Lisa einen neuen, den eigentlichen Anfang machen. Nur wohin er führt, in Freundschaft oder Liebe oder vielleicht sogar beides, das bleibt offen.

FaF, Kant, Moviemento; OmU im fsk und in den Hackeschen Höfen

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